"Bullshit" - Regierung streitet über Rente und Bürgergeld
1. September 2025
Bundeskanzler Friedrich Merz hat einen "Herbst der Reformen" angekündigt. Gemeint sind damit Kürzungen bei den Sozialleistungen und weniger Abgaben für die Wirtschaft. Die Herausforderungen sind gewaltig: Die deutsche Wirtschaft steht vor dem dritten Jahr ohne Wachstum, der Sozialstaat und das Rentensystem können mit den demografischen Entwicklungen nicht Schritt halten, und im Bundeshaushalt klafft für die Jahre 2027 bis 2029 ein Loch von rund 172 Milliarden Euro.
Der Sozialstaat muss sich ändern, wenn er Bestand haben soll. Darüber sind sich die konservativen Parteien CDU/CSU und die Sozialdemokraten grundsätzlich einig. Wie die Veränderungen allerdings im Einzelnen aussehen sollen, dazu gehen die Meinungen zwischen den Koalitionspartnern weit auseinander.
Mahnendes Beispiel: Die streitende Ampel-Regierung
Eigentlich ist Merz darauf bedacht, Reibungen in der Regierung zu vermeiden. Der Kanzler weiß nur zu gut, dass jeder Koalitionskonflikt - wie etwa der Streit um die Besetzung eines Richterpostens am Bundesverfassungsgericht im Sommer - seine Regierung wie die zerstrittene und viel gescholtene Vorgänger-Regierung unter Olaf Scholz erscheinen lässt, die Ende 2024 vor Ablauf ihrer regulären Amtszeit zerbrach.
Andererseits hat Merz mit Blick auf das Land eine klare Meinung: "Wir können uns diesen Sozialstaat mit dem, was wir erwirtschaften in der Bundesrepublik Deutschland, einfach nicht mehr leisten." Deutschland lebe seit Jahren über seine Verhältnisse. "Das wird schmerzhafte Entscheidungen bedeuten, das wird Einschnitte bedeuten", sagte er am Wochenende auf einem CDU-Landesparteitag in Bonn.
Einschnitte beim Bürgergeld
Kein Wort dazu, dass Merz in den Koalitionsverhandlungen zugelassen hat, dass die sogenannte Mütterrente erhöht wird und die Mehrwertsteuer für die Gastronomie wieder gesenkt wird. Diese Zugeständnisse trotzte ihm die kleine Schwesterpartei der CDU, die CSU, ab.
Sparen will Merz vor allem beim sogenannten Bürgergeld, der Grundsicherung für Arbeitslose. Es gebe drei Millionen Arbeitslose, zugleich aber Hunderttausende offene Stellen. "So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben und wird es auch nicht bleiben." Das kommt naturgemäß gut an bei der konservativen CDU-Basis, die seit März unzufrieden ist - damals drängte Merz den Bundestag dazu, die "Schuldenbremse", das konservative Heiligtum, zu opfern, um massive neue Kredite für Verteidigungs- und Infrastrukturprojekte zu ermöglichen.
Die Christsozialen (CSU) unter ihrem Parteichef, dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, wollen die Finanzlöcher ebenfalls mit Kürzungen beim Bürgergeld ausgleichen. Derzeit gebe Deutschland 50 Milliarden Euro im Jahr für das Bürgergeld aus, davon die Hälfte an Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, so Söder in einem Zeitungsinterview. "Es braucht harte Reformen. Wer in Deutschland keine rechtsstaatliche Anerkennung und keine Duldung erhält, kann nicht die gleichen sozialen Leistungen haben wie Menschen, die ihr Leben lang in die sozialen Kassen einbezahlt haben."
Empörung bei der SPD
Die SPD reagiert erbost. Es sei "Bullshit" zu behaupten, Deutschland könne sich seinen Sozialstaat nicht mehr leisten, konterte SPD-Co-Chefin und Sozialministerin Bärbel Bas Merz' Aussagen auf einer Konferenz der sozialdemokratischen Jugendorganisation Jusos. Statt harter Einschnitte fordert die SPD Steuererhöhungen, vor allem für Reiche. "Wenn man sagt, sozial gerecht, dann müssen alle das Gefühl haben, dass alle auch ihren Beitrag leisten", sagte SPD-Co-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil in der ARD. Er lehne die Vorstellung ab, man könne alles beim Sozialstaat einsparen. Doch CDU/CSU sind kategorisch gegen Steuererhöhungen.
Merz steckt in der Klemme: CDU/CSU zufriedenstellen oder die Koalition mit der SPD aufrechterhalten? Dieses Dilemma ist nach Ansicht von Oliver Lembcke, Politikwissenschaftler an der Universität Bochum, kaum lösbar. "Ich glaube, er kann es nicht wirklich lösen. Er ist auf Gedeih und Verderben auf die SPD angewiesen, weil es rechnerisch keine anderen Mehrheiten im Parlament gibt", sagte Lembcke der DW. Da die CDU Koalitionen mit der in Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) und der Linkspartei ausgeschlossen hat, besitzt die SPD unter Führung von Vizekanzler Klingbeil faktisch ein Vetorecht gegenüber Merz und der Union.
Laut der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, könnte es am Ende auf einen Kompromiss hinauslaufen, der sowohl Steuererhöhungen als auch Kürzungen bei Arbeitslosenleistungen umfasst. "Ich gehe davon aus, dass man an einer Steuererhöhung für Spitzenverdiener nicht vorbeikommt und dann eine Gegenleistung von der SPD erwarten kann", sagte sie der DW.
Merz: außenpolitisch stark, innenpolitisch schwach
All das ist unangenehm für den Kanzler, dessen Stärke sein pointierter rhetorischer Stil ist und der sich als starke Führungspersönlichkeit präsentieren will. Ein Grund, warum er 2022 zum CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, war, dass er als Redner als Mann klarer Worte galt - im Gegensatz zur zurückhaltenden Angela Merkel und dem wortkargen Olaf Scholz.
"Das könnte ein Vorteil sein", sagte Lembcke. "Das sieht man in seiner Außenpolitik, wo er meiner Meinung nach in relativ kurzer Zeit an Statur gewonnen hat. Er ist einer der Führer, vielleicht sogar der Führersprecher, wenn es darum geht, europäische Positionen gegenüber den USA vorzubringen." US-Präsident Donald Trump scheint Merz jedenfalls deutlich mehr zu mögen als seine Vorgänger: Nach ihrem ersten Treffen im Weißen Haus sagte Trump über Merz: "Er ist ein sehr guter Mann, mit dem man umgehen kann - schwierig, aber ein großartiger Vertreter Deutschlands."
Zuhause ist Merz nicht besonders beliebt
Doch während Merz' Stil international funktionieren mag, wirkt es innenpolitisch oft so, als sei nichts dahinter, meint Lembcke. "Da werden markige Worte gesagt, wie jetzt am Wochenende, und dann am Montag sagen die Genossen (von der SPD): Willst du uns erpressen? Das können wir genauso." Das Ergebnis sei dann oft, dass er doch wieder einen Kompromiss finden müsse.
Lembckes Analyse spiegelt sich in den deutschen Umfragen wider: Merz' persönliche Beliebtheit stieg im Juni, als er erstmals das Weiße Haus besuchte, ist seitdem aber gesunken. In einer ARD-Deutschlandtrend-Umfrage im August sank die Zufriedenheit mit Merz auf nur noch 32 Prozent - ein Rückgang um zehn Punkte im Vergleich zum Vormonat. Rund zwei Drittel der Deutschen (65 Prozent) äußerten Unzufriedenheit mit Merz' Arbeit.
Die SPD befindet sich in einer noch schwächeren Position als die CDU. Im ARD-Deutschlandtrend kam sie nur noch auf 13 Prozent. Damit liegt sie deutlich hinter CDU und AfD.
CDU und SPD in einer "Koalition der Schwachen"
Die Politikwissenschaftlerin Münch meint, dass beide Regierungsparteien erkennen müssen, dass sie in einer "Koalition der Schwachen" stecken. "Die CDU ist nicht stark und die SPD ist noch schwächer", sagte sie gegenüber der DW. "Und sie müssen sich bewusst sein, dass sie mit Maximalforderungen garantiert nichts erreichen werden." Ob es den Deutschen gefällt oder nicht - ein Kompromiss scheint der einzige Weg zu sein, auch wenn er am Ende vielleicht niemanden wirklich zufriedenstellt.