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PolitikEuropa

Ceuta: Minderjährige Migranten gestrandet

23. Mai 2021

Mehr als 8000 Migranten sind diese Woche in Ceuta angekommen. Die meisten hat Spanien wieder abschoben - doch bei Minderjährigen ist das nicht möglich. DW-Korrespondent Jan-Philipp Scholz hat einige von ihnen getroffen.

Zwei Soldaten und ein junger Mann in Badehose am Strand
Zwei spanische Soldaten kümmern sich um einen Minderjährigen, der gerade am Strand ankommtBild: Jan-Philipp Scholz/DW

Sein Ziel sieht Marwan bei gutem Wetter am Horizont: Der 16-jährige Marokkaner will es unbedingt auf das europäische Festland schaffen. Das liegt weniger als 30 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar, die Afrika von Europa trennt. Bis Ceuta hat sich Marwan bereits durchgeschlagen - ganz allein. Die kleine spanische Exklave an der nordafrikanischen Küste ist nur durch einen sechs Meter hohen Zaun von Marokko getrennt. Normalerweise ist hier kein Durchkommen. Doch Anfang der Woche setzte Marokko für kurze Zeit seine Grenzkontrollen aus - viele interpretierten das als Machtdemonstration gegenüber Spanien, mit dem das nordafrikanische Land momentan in mehreren diplomatischen Krisen steckt. 

"Bisher hat sich keiner gekümmert"

Marwan nutzte die Gunst der Stunde und schwamm einfach die Küste entlang am Grenzzaun vorbei. Seit langem schon wollte er nur noch weg aus seiner Heimat, in der die Armut und Trostlosigkeit für ihn immer unerträglicher wurden. In weniger als einer Stunde war der Jugendliche in der spanischen Exklave - zusammen mit mehreren Tausend anderen Migranten. "Das Schwimmen war überhaupt nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte", erzählt der Marokkaner. Doch seitdem war nichts so, wie Marwan es sich vorgestellt hat. Seit drei Tagen schläft der Jugendliche auf der Straße, tagsüber schlägt er sich im Hafenviertel mit Betteln durch. "Bisher hat sich keiner wirklich um uns gekümmert", so der Jugendliche. "Die meisten Nahrungsmittel haben wir von anderen Marokkanern bekommen, die in der Stadt sind".

Marwan ist allein nach Ceuta geschwommen (Unkenntlichkeitmachung erfolgte durch die DW zu dessen Schutz)Bild: Jan-Philipp Scholz/DW

Rund 800 minderjährige Migrantinnen und Migranten hat die spanische Regierung notdürftig in leerstehenden Warenhäusern direkt am Grenzübergang untergebracht. Die meisten Volljährigen hat das südeuropäische Land schnell und formlos abgeschoben. Oft werden die Migranten einfach in großen Gruppen auf der anderen Seite der Grenze abgesetzt. Diese sogenannten "heißen Abschiebungen" sind völkerrechtlich höchst umstritten, aufgrund eines Sondervertrags zwischen Spanien und Marokko aber seit Jahren gängige Praxis in Ceuta. Für unbegleitete Kinder und Jugendliche sind sie jedoch verboten, sie muss der spanische Staat - zumindest vorübergehend - in seine Obhut nehmen.

Für die Versorgung der Minderjährigen fehlt es aber momentan an allen Ecken und Enden. Das geben selbst die Helfer des Roten Kreuzes zu, die die jungen Migranten in den heruntergekommenen Warenhäusern betreuen. "Wir geben unser Bestes, die Menschen mit dem Allernötigsten zu versorgen, also mit Wasser, Nahrung, Kleidung", erklärt Mitarbeiterin Isa Brasero. Gleichzeitig müssten sie aber jederzeit damit rechnen, dass weitere Personen an der Küste Ceutas ankommen und die Vorräte knapp würden. Wie viele Minderjährige so wie Marwan momentan nicht in den Warenhäusern unterkommen, sondern auf den Straßen Ceutas leben, das können auch die Helfer vom Roten Kreuz nicht sagen. Die meisten Schätzungen gehen von mehreren Hundert aus.

Da kaum Platz ist in Ceuta, kommen die Jugendlichen in diesen Warenhäusern unterBild: Jan-Philipp Scholz/DW

Zwischen Mitleid und Angst

Viele der obdachlosen Jugendlichen schlafen unter Brücken oder in den Parks der Stadt. Tagsüber sammeln sie sich auf Plätzen, vor Supermärkten oder rund um den Hafen. Die vorbeigehenden Bewohner Ceutas scheinen beim Anblick der jungen Marokkaner hin- und hergerissen. "Momentan kommen hier so viele an, das ist nicht mehr normal", berichtet eine junge Mutter. "Die meisten von uns haben inzwischen richtig Angst." Um sich selbst mache er sich zwar keine Sorgen, berichtet ein Lehrer, der seit vielen Jahren in Ceuta lebt. "Viele meiner Schüler kommen aber inzwischen aus Verunsicherung gar nicht mehr zum Unterricht."

Migranten-Krise in Ceuta

02:10

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Taxifahrer Yunis hingegen kann die Verängstigung seiner Mitbürger nicht nachvollziehen. "Wir hatten doch noch nie Probleme mit den marokkanischen Migranten hier", erzählt er. "Normalerweise profitiert unsere Stadt sogar sehr von der Migration." Vor der Coronakrise und den pandemiebedingten Grenzschließungen habe es einen florierenden Handel zwischen Ceuta und den marokkanischen Nachbarn gegeben. Dieser sei zwar nicht immer ganz legal gewesen - oft wurden preiswerte Waren aus der steuerbegünstigten spanischen Exklave nach Marokko geschmuggelt, beide Seiten hätten aber gut davon gelebt. Doch seitdem dieser Handel zusammengebrochen ist, fehlt Tausenden marokkanischen Familien ihr gesamtes Einkommen. Viele Experten sehen hierin eine der Hauptursachen des extremen Migrationsdrucks, der sich aktuell aufbaut. Einige sprechen bereits von einer Ära der Corona-getriebenen Armutsmigration.

Unter Beobachtung: Migranten, die versuchen, an Land zu schwimmenBild: Jan-Philipp Scholz/DW

Europäische Union schweigt

Juan Jesús Vives, der Regierungschef von Ceuta, kann von seinem Büro aus die Gruppen junger Marokkaner beobachten. Auch er macht keinen Hehl daraus, dass die Stadt mit der aktuellen Situation überfordert ist. Trotz allem tue seine Regierung alles, um die Minderjährigen gemäß spanischen und europäischen Richtlinien zu behandeln, versichert er. "Es muss in dieser problematischen Situation allerdings auch Solidarität vom Rest Spaniens und vom Rest Europas geben", fordert der Regierungschef. Es handele sich hier schließlich nicht nur um die Grenze Ceutas, sondern um die Grenze der gesamten Europäischen Union. Doch bisher ist von der erhofften Solidarität wenig zu sehen. Nur widerwillig haben sich die anderen Regionen Spaniens bereiterklärt, einige Dutzend unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Die Europäische Union hat sich bisher nicht zu dem Thema geäußert.

Migranten warten auf der spanischen Seite der Grenze - teils reisen sie freiwillig aus, teils wurden sie abgeschobenBild: Jan-Philipp Scholz/DW

Migrant Marwan hält trotzdem weiter an seinem Traum fest, das europäische Festland am fernen Horizont zu erreichen. Am liebsten will er sich bis nach Frankreich durchschlagen - obwohl er nur ein paar Brocken Französisch spricht und das Land auf der großen Europakarte, die auf dem Platz vor dem Hafeneingang befestigt ist, gar nicht identifizieren kann. Alles sei besser als das aktuelle Elend in seiner Heimat, das steht für Marwan fest. "Wir haben doch gar nichts", so der 16-Jährige. "Noch nicht mal die Chance, auf eine ordentliche Schule zu gehen."

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