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Politik

Chabarowsk: Eine Stadt gegen Putin

Sergey Dik mo
3. August 2020

Anti-Kreml-Proteste im russischen Osten: Nach der Festnahme von Ex-Gouverneur Sergej Furgal gehen in Chabarowsk seit Wochen Zehntausende Menschen auf die Straße. DW-Korrespondent Sergey Dik war vor Ort.

Chabarowsks Einwohner protestieren gegen Festnahme des Ex-Gouverneurs Sergej Furgal
Chabarowsks Einwohner protestieren gegen Festnahme des Ex-Gouverneurs Sergej FurgalBild: DW/S. Dyck

Es sind zehntausende Menschen, die am vergangenen Samstag durch die Straßen im Stadtzentrum von Chabarowsk ziehen. Ihre Sprechchöre sind laut und deutlich: "Furgal ist unsere Wahl!", und "Furgal ist kein Mörder!"

Niemand stoppt die Demonstranten, die für den verhafteten und abgesetzten Gouverneur der Region Chabarowsk, Sergej Furgal, auf die Straße gehen. Die Autofahrer, die im Stau stehen müssen, sind nicht verärgert. Ganz im Gegenteil. Sie hupen und solidarisieren sich mit den Demonstranten.

Auf dem Rasen liegen Schutzmasken, Lebensmittelpakete und Getränke bereit, die von Freiwilligen verteilt werden. Kurz nach Beginn des Protests setzt heftiger Regen ein. Die Leute holen Regenschirme und Regenmäntel hervor, und waten knöcheltief im Wasser, ohne ihre gute Laune zu verlieren.

In Russland, wo nicht genehmigte Kundgebungen normalerweise von der Polizei und der Nationalgarde aufgelöst werden, ist Chabarowsk zu einer Art politischem Phänomen geworden. Für viele ist die Stadt ein neues Symbol des Protests gegen den Kreml.

"Wir sind erniedrigt worden"

Schon seit drei Wochen versammeln sich jeden Samstag um die Mittagszeit Zehntausende vor dem Gebäude der Regionalverwaltung in der 500.000 Einwohner-Stadt, die im äußersten Südosten Russlands nahe der chinesischen Grenze liegt. Während die Polizei das Gebäude umstellt, skandieren Demonstranten Parolen zur Unterstützung von Furgal und marschieren durch die Straßen der Stadt.

Am Wochenende gingen erneut zehntausende Einwohner in Chabarowsk auf die StraßeBild: DW/S. Dik

Offiziell werden die Kundgebungen von niemandem organisiert. Bekannt sind nur Ort und Zeit: Samstagmittag auf dem Lenin-Platz. Russische TV-Sender haben bis jetzt nicht darüber berichtet. Entsprechende Informationen werden von den Teilnehmern selbst in Chats, sozialen Netzwerken oder in persönlichen Gesprächen weitergegeben.

"Ich bin von Anfang an jeden Samstag hier. Seit 50 Jahren lebe ich in der Region und erlebe zum ersten Mal, dass es Kundgebungen zur Unterstützung eines Politikers gibt", sagt Sergej, der ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ich/Wir sind Sergej Furgal" trägt. "Die Menschen sind erniedrigt worden", betont er. "Wir haben Furgal doch gewählt, wieso kann der Präsident ihn einfach absetzen?", fragt er.

Anklage erst nach 15 Jahren

Am 9. Juli 2020 wurde Furgal vom Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) festgenommen und nach Moskau gebracht. Präsident Wladimir Putin entließ den Gouverneur der Region Chabarowsk per Dekret wegen "Vertrauensverlustes". Furgal wird beschuldigt, in den Jahren 2004-2005 Morde an Geschäftsleuten organisiert zu haben.

Zwei Tage nach der Festnahme fand im Zentrum von Chabarowsk die erste Aktion zur Unterstützung Furgals statt. Viele Einwohner von Chabatowsk glauben nicht, dass Furgal an den ihm vorgeworfenen Morden beteiligt war. Sie fragen sich, warum erst jetzt, 15 Jahre nach den Verbrechen, Anklage erhoben werde.

Der ehemalige Gouverneur Sergej Furgal von der ultranationalistischen Partei LDPR wurde vom Kreml festgenommen und abgesetztBild: picture-alliance/TASS/S. Karpukhin

Ein Teil der Demonstranten will die Sache vor Gericht geklärt sehen, aber nicht in Moskau, sondern in Chabarowsk. So wie Alexej Hartmann, Nachfahre deutscher Einwanderer mit russischer Staatsbürgerschaft. Seine Vorfahren kamen zur Zeit Katharinas II. nach Russland. Hartmann lebt in Chabarowsk, kommt regelmäßig zu den Kundgebungen und kennt Sergej Furgal persönlich.

"Er ist ein anständiger Mensch. Ich kenne Mitglieder seiner Familie und glaube persönlich nichts von dem, was ihm vorgeworfen wird." Jedenfalls sollte alles im Rahmen des Gesetzes bleiben, sagt Hartmann und fügt hinzu: "Die Menschen fordern zurecht, dass Furgal hierher gebracht wird, und dass das Verfahren gemäß der Zivilprozessordnung hier vor Ort stattfindet."

Wer ist Sergej Furgal?

Sergej Furgal war in den 1990er Jahren Geschäftsmann.  Nach der Gründung der ultranationalistischen und rechtspopulistischen "Liberaldemokratischen Partei" (LDPR) 1991 trat er dieser bei und wechselte in die Politik. Er absolvierte die Russische Akademie für den öffentlichen Dienst beim Präsidenten Russlands und wurde als Abgeordneter in die Duma, das Unterhaus des Parlaments, gewählt.

Treue Anhänger von Ex-Gouverneur Furgal: Demonstranten auf der Kundgebung in Chabarowsk am 1. AugustBild: DW/S. Dik

2018 wurde er Gouverneur von der Region Chabarowsk. Die Region war damals eine von fünf, in denen oppositionelle Kandidaten die Wahlen gegen Schützlinge der Regierungspartei "Einiges Russland" gewannen. Furgal bekam fast 70 Prozent der Stimmen. Den Erfolg führten viele Beobachter auf eine "Proteststimmung" zurück, denn viele Einwohner der Region fühlen sich von Moskau vernachlässigt.

Furgals erste Entscheidungen nach der Wahl machten ihn populär. So ordnete er an, die Yacht der Regionalregierung zu verkaufen, deren Unterhalt pro Jahr 600.000 Rubel kostete (ungefähr 7000 Euro). Ferner kürzte er Staatsbediensteten und den Abgeordneten der Region die Renten, wodurch weitere neun Millionen Rubel (über 100.000 Euro) eingespart wurden.

Anstelle des verhafteten Furgal ernannte Wladimir Putin Michail Degtjarjow zum amtierenden Gouverneur. Die Rechnung war einfach: Degtjarjow ist ebenfalls von der LDPR, ein junger und ehrgeiziger Politiker, der 2013 und 2018 um den Posten des Bürgermeisters von Moskau kämpfte und beide Male verlor.

Ehrgeizig: Michail Degtjarjow wurde zum Nachfolger von Furgal und amtierenden Gouverneuer ernanntBild: picture-alliance/AP Photo/Photo service of the State Duma

"Wir kommen wieder!"

In Chabarowsk angekommen, distanzierte sich Degtjarjow vom Kurs seines Vorgängers. Er sagte einen vereinbarten Termin mit Journalisten ab und lehnte auch ein Treffen mit Demonstranten ab. Zur Begründung verwies er darauf, dass die Menschen auf dem Platz nicht die nötige soziale Distanz einhalten würden. 

Sein Verhalten blieb nicht unbemerkt. Auf Degtjarjows Instagram-Seite wurde viele kritische Kommentare gepostet. Im Regionalparlament und im Stadtrat verließen zwei Abgeordnete die LDPR. Die Proteste haben mittlerweile einen Großteil der Bevölkerung in Chabarowsk erreicht. 

"Wir kommen wieder!", rufen die Demonstranten zum Schluss der Kundgebung am vergangenen Samstag. Der Marsch endet an derselben Stelle, an der er begann: vor dem Gebäude der Regionalverwaltung. Hier rufen Tausende "Freiheit!", und "Wenn wir eins sind, sind wir unbesiegbar!"

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