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PolitikAsien

Chamenei, die Karikaturen und der Holocaust

7. November 2020

Der iranische Religionsführer Ayatollah Chamenei fragt, was die Beleidigung des Propheten Mohammed vom Zweifeln an der Realität des Holocaust unterscheide. Die Antwort dürfte er kennen. Doch die interessiert ihn wenig.

Iran | Ali Khamener tifft Mitgliedern des Nationalen Anti-Corona-Stab
Der geistliche Führer des Iran, Ayatollah ChameneiBild: MEHR

Darf man Religionsstifter und ihre Nachfolger und Anhänger karikieren? Ja, unbedingt, hatte der französische Präsident Emmanuel Macron im Zusammenhang mit der Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty unter Berufung auf die Meinungsfreiheit erklärt. Seine Worte hatten in Teilen der islamischen Welt bis in die Staatsspitzen hinein für Aufruhr gesorgt. So auch in der Islamischen Republik Iran, wo sich der geistliche Führer des Iran, Ayatollah Chamenei, zu Wort meldete.

Ende Oktober wandte er sich auf seiner offiziellen Webseite an die jungen Franzosen. Im Vorspann seines Textes war von "schändlichen Angriffen" auf den Propheten die Rede. Ein Wort des Mitgefühls für den enthaupteten Lehrer Samuel Paty hielt der oberste iranische Religionsgelehrte hingegen nicht für nötig.

Karikatur: Chameneis Brief an Jugendliche in Frankreich

Vergleich von Unvergleichbarem

Rasch kam Chamenei zum Kern seines Anliegens: Was eigentlich, fragte er, sei der Unterschied zwischen der Beleidigung des islamischen Religionsstifters Mohammed und dem Zweifel am Holocaust? "Warum also wird es als Verbrechen gesehen, am Holocaust zu zweifeln? Und warum muss derjenige, der über dieses Thema schreibt, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, während die Beleidigung des Propheten eine erlaubte Handlung ist?"

Chameneis Frage impliziert unterschwellig eine kühne Annahme, dass die Verspottung von Religionsstiftern einerseits und die Bestreitung millionenfachen Mordes andererseits lediglich zwei Fälle eines gleichermaßen beleidigenden Verhaltens seien. Die Gefühle von Gläubigen zu beleidigen stellt er auf eine Stufe mit der Verhöhnung, die das Leugnen des Völkermords für die Getöteten und deren Nachfahren darstellt. Hier Irritation konfessioneller Hingabe, dort Verleugnung der Opfer industriellen Massenmords: Chamenei hält beides offenbar für vergleichbar.

Damit gibt Chamenei vor, er kenne einen fundamentalen Unterschied nicht: den zwischen Fakt und Glauben, zwischen historischer Wirklichkeit und religiösem Mythos. Dieser Unterschied ist fundamental und so einleuchtend, dass man unterstellen darf, Chamenei gehe hier bewusst unter sein eigenes intellektuelles Niveau wie auch das der historischen und theologischen Debatten.

Holocaust-Leugner ohne Faktengrundlage

Der Holocaust ist Fakt, unumstößliche Wirklichkeit. Wer ihn leugnet, leugnet diese, wer am Völkermord zweifelt, stellt die Realität als solche infrage. Leugner des Holocaust stehen Beweisen gegenüber, die schlicht nicht aus der Welt zu schaffen sind. So etwa den Aussagen der Zeitzeugen: der Überlebenden, der Augenzeugen wie auch der Täter. Gerade die Aussagen der Letzteren sind von Gewicht. Sie mögen ihre individuelle Schuld oder Verantwortlichkeit bestritten haben, nicht aber die Existenz der Todesmaschinerie. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat als Nachfolgestaat des NS-Staates den Holocaust als Faktum anerkannt. Warum sie das tun sollte, hätte dieses Verbrechen nicht stattgefunden, bleibt Geheimnis der Holocaustleugner.

Generell haben ihre vermeintlichen Fakten keinerlei Bestand. Im Jahr 2000 wies die Historikerin Deborah Lipstadt in einem aufsehenerregenden Gerichtsprozess den Holocaustleugner David Irving in die Schranken. "Damals", schreibt sie in ihrem Buch "Der neue Antisemitismus", "verfolgten mein Team und ich seine 'Beweise' bis an ihre Quellen und fanden heraus, dass jede seiner Behauptungen über den Holocaust auf Fälschungen, Erfindungen, Verzerrungen, Datumsänderungen oder anderen Formen der Unwahrheit gründete."

Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der Berliner StadtmitteBild: Getty Images/S. Gallup

Agenda der Holocaust-Leugner

Ethisch und politisch gebietet der Respekt vor den rund sechs Millionen Opfern, das Leugnen dieses Verbrechens unter Strafe zu stellen. Als erwiesen unwahre sowie bewusst falsche Tatsachenbehauptungen könnten nicht zur verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung beitragen, urteilte vor einigen Jahren das deutsche Bundesverfassungsgericht.

Hinzu kommt: Die Leugnung des Holocausts ist nicht nur eine bizarre Geschichtsverdrehung. Darin unterscheidet sie sich etwa von der Behauptung, die Erde sei eine Scheibe. Diese Behauptung ist schlichter Wahn. Von diesem unterscheiden sich die meisten Holocaustleugner durch ihre Agenda. Denn die Behauptung, der Holocaust sei eine Lüge, arbeitet mit einer Unterstellung: Es gebe eine Kraft, die in der Lage sei, der gesamten Welt eine - aus Sicht der Holocaustleugner - so gewaltige Lüge wie den Völkermord aufzutischen. Eine solche Macht hat aus Sicht der Leugner nur eine Gruppe: die Juden. Damit schaffen die Holocaustleugner einen alten Mythos auf ihre Weise neu, den von der jüdischen Weltverschwörung.

Protest gegen Franksreichs Präsident Macron Ende Oktober 2020 in der iranischen Hauptstadt TeheranBild: Fatemeh Bahrami/picture alliance / AA

Chameneis Kalkül

Chamenei jüngste Äußerungen legen nahe, dass er mit diesem Mythos zumindest spielt. Dass ihn die Weltanschauung der Nationalsozialisten offenbar nachhaltig inspiriert, hatte er bereits im Mai dieses Jahres gezeigt, als er in Verbindung mit dem Al-Kuds-Tag und der "Befreiung" Jerusalems auch das Wort von der "Endlösung" gebrauchte.

Am Dienstag dieser Woche sprach Chamenei in einer auf seiner offiziellen Webseite auszugsweise dokumentierten Rede vom "Feind des Islam, seinem größten Feind". Dieser sei "das hegemoniale Amerika, diese globale Arroganz, dieser Zionismus, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und an allen Fronten gegen den Islam kämpfen."

Die jüngste Episode dieses Kampfes, fuhr Chamenei fort, seien die Mohammed-Karikaturen. Der Karikaturist - gemeint war die Zeitschrift Charlie Hebdo - stehe nicht allein. "Hinter den Kulissen", raunte Chamenei, "agieren Hände - daher die Unterstützung, die diesem Karikaturisten ein ganzer Staat, dessen Präsident und seine führenden Kräfte gewähren."

Die "Hände" sind offenbar die jüdische Allmacht, die es fertig bringt, einem ganzen Staat ihren Willen aufzuzwingen, ein klassisch antisemitisches Motiv. Chamenei spielt es zwar nicht in aller Eindeutigkeit aus, lässt es in seiner Erklärung aber unverkennbar durchschimmern.

Warum, liegt auf der Hand: Der Iran steht innen- und außenpolitisch enorm unter Druck. Mehr und mehr arabische Staaten gehen auf Distanz zu ihm. Der Karikaturenstreit bietet Chamenei Gelegenheit, sich als Verteidiger der Muslime zu inszenieren, in der Hoffnung wohl, aus dieser Rolle politische Legitimität zu ziehen. Ob sie ihn in dieser Rolle überhaupt sehen wollen, fragt Chamenei die Muslime nicht.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika