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Versagen und Schuldzuweisungen

Matt Pearson Paris
30. Mai 2022

Gefährlich eingezwängte Fans in engen Betonpassagen, Einsatz von Tränengas und Zusammenstöße wegen "gefälschter" Eintrittskarten. Die Ereignisse in Paris werfen kein gutes Licht auf Organisatoren und Polizei.

Liverpooler Fans stehen dicht gedrängt an einem Stadionzaun des Stade de France in Paris und zeigen ihre Tickets für das Champions-League-Finale
Gültiges Ticket, aber keine Chance, pünktlich ins Stadion zu gelangen - frustrierte Liverpool-Fans in ParisBild: Christophe Ena/AP Photo/picture alliance

Tausende von Fans, die an den falschen Ort geschickt wurden, die Verbreitung fragwürdiger Gerüchte über gefälschte Eintrittskarten, die langsame Reaktion der Polizei und der Einsatz von Tränengas - das alles führte am Samstag rund um das Champions-League-Finale in Paris zu beunruhigenden Szenen. So sehen es jedenfalls die meisten Liverpooler Fans. So sieht es auch Pierre Barthulemy, Anwalt und Vorstandsmitglied der Organisation "Football Supporters Europe", der ebenfalls im Stade de France war.

"Ich verstehe wirklich nicht, wie die Verantwortlichen so viel Mist bauen konnten", sagte Barthulemy der DW. "Und das Schlimmste ist, dass es passiert ist und sie zwei Stunden gebraucht haben, um es zu einzusehen." So lange dauerte es, bevor ein schmaler, von Beton eingefasster Eingang nahe einer Autobahn geschlossen wurde. Dorthin waren die meisten Liverpooler Fans vom Bahnhof aus geleitet worden. Dann aber ging es nicht mehr weiter. Tausende Fans kamen nicht ins Stadion. Zweimal wurde der Anpfiff verschoben, weil viele Plätze noch immer leer waren. Die Organisatoren der UEFA führten die Spielverzögerung zunächst auf "die verspätete Ankunft der Fans" zurück.

Eine verrückte Situation

Allerdings war das nicht der wahre Grund. Einige Fans steckten bereits seit Stunden fest. Schließlich beschloss die Polizei, den Kontrollpunkt an der Autobahn und weitere Checkpoints zu schließen, um den Fans einen leichteren Zugang zum Außenbereich des Stadions zu ermöglichen. Barthulemy hatte sich bereits zuvor mit den zuständigen Polizeibeamten in Verbindung gesetzt hatte, um sie auf die Probleme.

"Es war verrückt zu sehen, dass niemand das Problem verstanden hat. Niemand hat reagiert", sagt Barthulemy. "Wir haben zwei Stunden verloren. Dann erst haben sie beschlossen, den ersten Kontrollpunkt abzubauen. Und das war der Zeitpunkt, an dem Leute ohne Tickets hinzukamen und anfingen, über die Zäune zu klettern. Dann geriet die Sache völlig außer Kontrolle."

Offenbar handelte es sich dabei nicht um Liverpooler Anhänger, sondern um Einheimische - das berichteten Liverpool-Fans der DW und deckt sich mit den Beobachtungen des Autors. Die Polizei reagierte mit dem Einsatz von Tränengas. "Während wir in der Schlange standen, war die Stimmung heiter", sagt Liverpool-Fan Claire, die das Spiel gemeinsam mit ihrem 70-jährigen Vater besuchte.

"Plötzlich gab es Panik in der Menge, die Leute rannten weg, und das Tränengas traf uns. Da waren weinende Kinder, Menschen mit Schmerzen und völlige Verwirrung. Jeder hätte in dem Gedränge verletzt werden können, denn die Menschen rannten durch einen schmalen Spalt in Deckung", beschreibt Clare die Situation. "Mein erster Gedanke war: Geht es meinem Vater gut? Er ist Asthmatiker, und ich konnte hören, dass er Probleme hatte. Es war verstörend und erschütternd zu sehen, wie unschuldige Menschen so behandelt wurden."

Trauma von Hillsborough

Gefahrensituationen wie diese wirken auf viele Liverpool-Fans traumatisch, wecken sie doch Erinnerungen an die  Hillsborough-Katastrophe in Sheffield im Jahr 1989. Damals waren 94 Fans der "Reds" im Gedränge ums Leben gekommen und fast 800 verletzt worden. An den Folgen von Verletzungen waren später drei weitere Menschen gestorben.

Die 97 Opfer von Hillsborough sind ein wichtiger Teil der Identifikation der Liverpool-Fans mit ihrem KlubBild: imago images/Colorsport

Einige englische Medien, allen voran das Boulevardblatt "The Sun", gaben den Liverpooler Fans die Schuld an dem Unglück. Erst 27 Jahre später stellte sich heraus, dass Polizei und Rettungsdienste versagt und zudem noch versucht hatten, ihre Fehler zu vertuschen.

Tränengas als Antwort

Am Eingangstor Y des Stade de France, einem der Hauptzugänge für die englischen Fans, war aufgrund von Gerüchten über gefälschte Eintrittskarten zur ursprünglich geplanten Anstoßzeit um 21 Uhr Ortszeit nur ein einziges Drehkreuz geöffnet. Die UEFA behaupte, dass "die Liverpooler Kurve von Tausenden von Fans blockiert wurde, die gefälschte Tickets gekauft hatten, die an den Drehkreuzen nicht funktionierten", sagt Barthulemy der DW. "Ich stand eine Stunde lang am Tor Y und habe nur etwa zehn Leute mit gefälschten Tickets gesehen, die von der Polizei festgenommen wurden. Tausende von Fans, die zu diesem Zeitpunkt noch vor dem Stadion standen, hatten gültige Tickets. Und als sie diese zeigten, bekamen sie Tränengas als Antwort."

Der FC Liverpool twitterte noch während des Spiels, dass der Verein "offiziell eine formelle Untersuchung der Ursachen dieser inakzeptablen Probleme" beantragt habe. Selbst die Beamte der Liverpooler Polizei, die mit nach Paris gereist waren, stellten die offizielle Interpretation der Ereignisse durch die UEFA und die Pariser Polizei in Frage.

Französische Polizisten versuchten, Fans mit Hilfe von Tränengas und Pfeffer-Spray vom Zaun zu vertreibenBild: Adam Davy/imago images/PA Images

Frankreichs Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra schob die Schuld an den Ereignissen vor allem den britischen Fans zu. 30.000 bis 40.000 seien ohne Ticket oder mit gefälschten Eintrittskarten zum Stade de France gedrängt und hätten dort für massive Sicherheitsprobleme gesorgt, sagte die Ministerin am Montag dem Sender RTL in Paris. Geklärt werden müsse noch, wo die gefälschten Tickets in derart hoher Zahl herkamen. Die Ministerin warf dem FC Liverpool außerdem vor, sich - anders als Real Madrid - nicht gut um die Begleitung seiner Fans gekümmert und diese sich selber überlassen zu haben.

Unerfahrene Polizei

Pierre Barthulemy von den "Football Supporters Europe" sieht die Verantwortung vor allem auf Seiten der französischen Polizei. Da Auswärtsfans bei Klubspielen in Frankreich weitgehend verboten seien, fehle es den Einsatzkräften der Anti-Hooligan-Abteilung des Innenministeriums an Erfahrung im Umgang mit Fußballspielen. "Der Mann, der für die polizeiliche Überwachung der Fans in Frankreich zuständig ist [Thibaut Delaunay, Leiter der Anti-Hooligan-Abteilung des Innenministeriums, Anm. d. Red.], war die ganze Woche in Katar, angeblich um die nächste Weltmeisterschaft zu organisieren", sagt Barthulemy. "Seine Nummer zwei war im Urlaub, und die Nummer drei war telefonisch nicht zu erreichen. Wir haben gesehen, wie dieser Abteilungsleiter Besuchern aus Katar das Stadion zeigte. Er hatte kein Walkie-Talkie, keinen Ohrhörer, er war offensichtlich nicht zum Arbeiten beim Spiel."

Liverpools Bürgermeisterin Joanne Anderson bezeichnete das Vorgehen der französischen Polizei gegenüber der BBC als "überaus widerlich" und "wirklich brutal", die Organisation als "chaotisch". Anderson, die persönlich im Stadion war, forderte eine Entschuldigung gegenüber den Liverpooler Anhängern: "Unsere Fans wurden in Bezug auf ihr Verhalten stereotypisiert. Ich werde immer wütender, je mehr Geschichten ich höre."

Der Liverpooler Parlamentsabgeordnete Ian Byrne zeigte sich ebenfalls entsetzt. "Wir sind zurück in der Zeit von 1989, als Lügen und Verleumdungen über Hillsborough sehr schnell verbreitet wurden und dieses Narrativ gesetzt wurde."

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.

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