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Chaos bei Aufnahme afghanischer Ortskräfte

Nina Werkhäuser | Naomi Conrad | Esther Felden
21. Oktober 2021

Nach ihrer dramatischen Flucht aus Afghanistan verzweifeln viele Ortskräfte an der deutschen Bürokratie. Ihr rechtlicher Status ist unsicher.

Afghanische Ortskräfte steigen bei ihrer Ankunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Brandenburg in der Dunkelheit eine Treppe hoch
Kein Ende der Unsicherheit: Afghanische Ortskräfte bei ihrer Ankunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung in BrandenburgBild: Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

"Es war wirklich katastrophal", erzählt Abdul über seine erste Anhörung in einer deutschen Behörde. Jahrelang hat der junge Afghane in Kabul für deutsche Institutionen gearbeitet, sein Deutsch ist exzellent. Als er Mitte August vor den Taliban flüchten musste, baute er darauf, in Deutschland willkommen zu sein. Er hoffte, als sogenannte Ortskraft unkompliziert Aufnahme zu finden. 

Stattdessen stieß er auf Desinteresse und Ablehnung. "Ich habe mich gefragt: Bin ich hier wirklich in der Bundesrepublik Deutschland?", sagt Abdul, seine Stimme klingt enttäuscht. 

Flucht aus Afghanistan - jetzt in Deutschland

04:20

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Ein Erlebnis hat ihn besonders schockiert: Gut vier Wochen, nachdem ihn die Bundeswehr aus Afghanistan ausgeflogen hatte, musste Abdul erstmals beim Amt für Migration vorsprechen. Das war in Hamburg, wo er damals in einer Flüchtlingsunterkunft lebte. 

Ortskräfte wie er, das hatte die Bundesregierung zugesagt, bekämen in Deutschland für vorerst bis zu drei Jahre eine Aufenthaltserlaubnis "aus dringenden humanitären Gründen". Sie dürften sofort arbeiten und Sozialleistungen beziehen. So sieht es der Paragraf 22 des deutschen Aufenthaltsgesetzes vor. 

Dokumente, die keiner sehen wollte

Abdul ging fest davon aus, diesen Aufenthaltstitel zu bekommen. Schließlich hatte er bis kurz vor der Machtübernahme der Taliban am 15. August für eine deutsche Einrichtung gearbeitet. Er möchte sie öffentlich nicht nennen, solange sein Fall nicht abschließend bearbeitet ist. Auch seinen echten Namen hält er lieber geheim. 

Seine Arbeitsverträge und weitere Dokumente nahm er mit zum Termin in der Ausländerbehörde. Doch für seine Unterlagen, erzählt der höfliche junge Mann der Deutschen Welle, hätten sich die Mitarbeiter überhaupt nicht interessiert. 

Stattdessen hätten sie ihn zu seiner Überraschung aufgefordert, einen Asylantrag zu stellen. Ein Verfahren, das für Ortskräfte wie ihn gar nicht vorgesehen ist. Und das den Antragstellern deutlich weniger Rechte einräumt. 

Luftbrücke aus Kabul: Mit Maschinen der Bundeswehr wurden ehemalige Ortskräfte wie Abdul ausgeflogenBild: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Ein Asylverfahren kann viele Monate oder sogar Jahre dauern. Bis zur Entscheidung dürfen die Antragsteller nicht arbeiten und ihre Familie nicht nach Deutschland holen. Mehr noch: Über Asylanträge von Afghaninnen und Afghanen wird derzeit gar nicht entschieden. Sie liegen wegen der Lage im Land auf Eis. Tausende Entscheidungen stehen noch aus. 

"Keiner hat mir zugehört"

Als Abdul auf seinen Status als Ortskraft hinwies, sei er unter Druck gesetzt worden: Er werde seine Unterkunft im Flüchtlingsheim verlieren, wenn er darauf bestehe, einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen zu beantragen, erklärte ihm ein Mitarbeiter. "In so einer Situation jemandem die Unterkunft wegzunehmen, bedeutet wirklich einen Weltuntergang", kritisiert Abdul.

Jahrelang Seite an Seite: Ein afghanischer Übersetzer (vorne rechts) dolmetscht für einen deutschen Soldaten Bild: picture-alliance/dpa

Verzweifelt habe er versucht, seine Lage zu erklären – auf Deutsch und mithilfe der mitgebrachten Arbeitsverträge: "Aber keiner hat mir zugehört." Auf einem Blatt, das ihm in die Hand gedrückt wurde, bekam er es dann schwarz auf weiß: Er sei nicht als Ortskraft anerkannt. Das Dokument zeigt er der Deutschen Welle. "Das war ein ganz schwieriger Moment für mich." 

In seiner Not rief Abdul bei seinem ehemaligen deutschen Arbeitgeber an. Der intervenierte bei der Ausländerbehörde. "Am Folgetag wurde der Bescheid korrigiert", erzählt Abdul. Dass er nur dank seiner guten Beziehungen und exzellenten Sprachkenntnisse verhindern konnte, in ein Asylverfahren gedrängt zu werden, hat ihn getroffen. Sein einst positives Bild von Deutschland hat Risse bekommen.

Bundesregierung: 477 Ortskräfte

Seit der Machtübernahme der Taliban Mitte August sind etwa 5440 Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland gekommen - so die Zählung der Bundesregierung vom 18. Oktober. Darunter seien 477 Ortskräfte mit ihren Familien. Darüber hinaus nimmt Deutschland Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen und Medienschaffende aus humanitären Gründen auf. 

Nach ihrer Ankunft am Flughafen Frankfurt erhielten Afghaninnen und Afghanen ein Visum für 90 TageBild: Kai Pfafenbach/REUTERS

Mehrere deutsche Ministerien haben eigene Listen mit örtlichen Mitarbeitern und Schutzbedürftigen erstellt. Dadurch kommt es immer wieder zu Abstimmungsschwierigkeiten. Auch werden weitere Namen noch nachträglich auf die Listen gesetzt. Tausende Ortskräfte und ihre Familien warten in Afghanistan noch auf ihre Ausreise. 

Streit innerhalb der Regierung   

Bis wenige Wochen vor der Machtübernahme der Taliban waren sich das Verteidigungs-, das Innen- und das Entwicklungsministerium sowie das Auswärtige Amt uneins, wer überhaupt als Ortskraft anerkannt werden sollte. Zunächst zählten nur diejenigen, die in den letzten beiden Jahren als Ortskräfte tätig waren.

Erst ab Mitte Juni weiteten das Verteidigungsministerium und das Innenministerium den Personenkreis auch auf Ortskräfte aus, die seit dem Jahr 2013 für sie gearbeitet hatten. Die anderen beiden Ressorts akzeptierten dies zunächst nicht, weil sie ihre Ortskräfte für die Zukunft in Afghanistan halten wollten. Die Bundesregierung unterschätzte die Gefahr, die durch die Taliban drohte. So wurde vielen gefährdeten Menschen zu spät geholfen. 

Alle werden überprüft   

Doch auch vor denjenigen, die es nach Deutschland geschafft haben, liegen noch weitere Hürden. Es sei notwendig, alle afghanischen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Deutschland noch einmal auf den Status als Ortskraft zu überprüfen, erklärte das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegenüber der DW. Wer nicht als Ortskraft anerkannt werde, müsse einen Asylantrag stellen, um nach Ablauf der ersten 90 Tage - so lange gilt in der Regel das Einreisevisum - in Deutschland bleiben zu dürfen. Dieses erste Visum wurde den Afghaninnen und Afghanen bei ihrer Ankunft an deutschen Flughäfen oder von der deutschen Botschaft in Afghanistans Nachbarland Pakistan ausgestellt. 

Ehemalige Ortskräfte dürfen ihre Ehepartner und Kinder mit nach Deutschland bringenBild: localpic/imago

Nach Auskunft des BAMF handelt es sich dabei um "Ausnahmevisa", die allein zu dem Zweck vergeben werden, den Status der Eingereisten in Deutschland zu überprüfen. Das hat bei einigen der Flüchtlinge, mit denen die DW gesprochen hat, zu einem Missverständnis geführt. Sie nahmen an, dass ihr Visum automatisch in einen mehrjährigen Aufenthaltstitel nach Paragraf 22 umgewandelt würde. Später erfuhren sie dann, dass entweder ihr Status als Ortskraft geklärt werden muss oder sie einen Asylantrag stellen müssen.   

Post vom BAMF

Der DW liegen diverse Berichte vor, nach denen Afghanen bereits aufgefordert wurden, einen Asylantrag zu stellen, bevor ihr Status als Ortskraft abschließend überprüft worden war. Auch Mohammad erging es so. Gemeinsam mit seiner Familie sei er im August von der Bundeswehr aus Kabul ausgeflogen worden, berichtet er am Telefon und über WhatsApp. 

Derzeit lebt Mohammad, der in Wirklichkeit anders heißt, in einer Flüchtlingsunterkunft in Norddeutschland. Anfang September bekam er eine Mail vom BAMF, in der er aufgefordert wurde, einen Asylantrag zu stellen. Darin heißt es: "Bei Ihrer Kurzbefragung am Flughafen haben Sie keine Angaben darüber gemacht, dass Sie für eine deutsche Organisation in Afghanistan tätig waren." Daher könne er nicht den Aufenthaltstitel bekommen, der für Ortskräfte vorgesehen ist. 

Wer gilt als Ortskraft? 

Für Mohammad war das ein Schock. Er ging fest davon aus: Ich war Ortskraft. Von 2019 bis 2021 habe er für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet, erzählt er. Der DW schickt er ein Schreiben: Eine Bescheinigung, ausgestellt von seinem Projektmanager. Darin steht, dass er als Berater für die GIZ tätig war. 

Ein Schreiben des BAMF löste bei den Neuankömmlingen Ängste ausBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Doch die Sache hat einen entscheidenden Haken: Direkt angestellt war er bei einem afghanischen Unternehmen. Deshalb ist unklar, ob er nach der Definition der Bundesregierung in die Gruppe der Ortskräfte fällt. 

Als Ortskraft gilt, wer seit 2013 direkt für ein deutsches Ministerium oder eine Institution gearbeitet hat. Viele Afghanen waren aber über afghanische Subunternehmen für deutsche Einrichtungen tätig - und fallen jetzt womöglich durch den Rost so wie vielleicht Mohammad.  

Alle seine Versuche, darüber eine klare Auskunft zu bekommen, sind bisher gescheitert. Es herrsche ein totales Durcheinander, beklagt Mohammad. Gleichzeitig tickt die Uhr: Sein 90-Tage-Visum läuft ab. Er fragt sich: Soll er einen Asylantrag stellen?   

"Das Visum erlischt"

Asylrechts-Experten warnen allerdings: Wer einen einmal gestellten Asylantrag später zurückzieht, weil er doch als Ortskraft anerkannt werden möchte, könnte in Schwierigkeiten geraten. "Wenn diese Personen einen Asylantrag stellen, dann erlischt ihr Visum", erklärt Peter von Auer von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. "Wenn sie ihren Asylantrag wieder zurückziehen wollen, dann sind sie für die Dauer dieses Verfahrens unrechtmäßig in Deutschland. Sie sind ausreisepflichtig."

BAMF: "Asylantrag ist freiwillig"  

Das BAMF bestreitet, Ortskräfte vorschnell oder unnötigerweise in Asylverfahren zu drängen. Es stimme zwar, dass die Behörde Schreiben mit der Aufforderung versandt habe, einen Asylantrag zu stellen. Allerdings nur, um die Empfänger über die Rechtslage aufzuklären. 

Aufenthaltstitel oder Asylverfahren? Das ist in vielen Fällen unklarBild: Kai Pfafenbach/REUTERS

"Das Bundesamt hat lediglich auf die Möglichkeit eines Asylverfahrens hingewiesen", heißt es in einer Stellungnahme gegenüber der DW. Das sei eine freiwillige Option für die Betroffenen. 

Doch die Recherchen der DW zeigen ein anderes Bild: So wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer parteinahen deutschen Stiftung in Afghanistan vom BAMF schriftlich aufgefordert, einen Asylantrag zu stellen - und das, obwohl sie per Definition Ortskräfte waren. Auch andere Afghanen sind nach Informationen der DW von Behördenmitarbeitern angehalten worden, einen Asylantrag zu stellen, bevor ihr Status als Ortskraft abschließend geklärt war. 

"Wir werden Sie auf die Straße setzen" 

Das belegt auch ein am 22. September gefilmtes Video, das der Deutschen Welle vorliegt und inzwischen in sozialen Netzwerken kursiert. Es zeigt eine Behördenmitarbeiterin in Eisenhüttenstadt, einer Kleinstadt im Bundesland Brandenburg, im Gespräch mit Afghaninnen und Afghanen. "Sie sind nicht 100-prozentig als Ortskräfte anerkannt. Das Bundesamt wird es erst prüfen", erläutert die Mitarbeiterin. Und fügt hinzu: "Wenn Sie sagen, ich eröffne heute kein Asylverfahren, wird folgendes passieren (…): Wir werden Sie, auf Deutsch gesagt, auf die Straße setzen." 

Das BAMF wies die Vorwürfe zurück. Niemand würde "zur Stellung eines Asylantrags gedrängt, genötigt oder gar gezwungen". 

Deutschland: Aus Afghanistan gerettet

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Geduldsprobe für die Ortskräfte

Die andauernde Ungewissheit belastet die afghanischen Ortskräfte in Deutschland. So geht es auch Abdul, dem jungen Mann mit dem fast perfekten Deutsch. "Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich mir Sorgen mache", erzählt er der Deutschen Welle. 

Zwei Monate nach seiner Ankunft in Deutschland hat Abdul immer noch keinen Aufenthaltstitel nach Paragraf 22. Er hat lediglich die Zusage, dass er nach Ablauf der 90 Tage weiter in Deutschland bleiben darf, bis sein Status geklärt ist.

"Damit muss ich leben", antwortet er auf die Frage, wie es ihm in dieser Situation geht. Aber eines stimmt ihn froh: Seit kurzem weiß er, dass seine Familie auch nach Deutschland kommen kann. Das sei das Wichtigste für ihn.

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