Chaos ohne Ende
6. November 2005Die Aufrufe der Regierung, muslimischer Würdenträger und auch der Eltern zweier Jungen, deren Unfalltod die Unruhen ausgelöst hatten, verhallten ungehört. Trotz der Ankündigungen der französischen Regierung, mit aller Härte gegen jugendliche Randalierer vorzugehen, haben sich die Krawalle im ganzen Land noch verstärkt. Mobile Brandstifterbanden zogen vermehrt auch in ruhige Viertel. Erstmals wurden auch im Zentrum von Paris Unruhen gemeldet: Es flogen Molotow-Cocktails und Autos wurden angezündet.
Brandanschläge gab es im Umland zahlreicher Städte von Mülhausen im Elsass und Lille im Norden bis Lyon und Avignon im Süden. In Evreux, 40 Kilometer westlich von Paris, zerstörten Vermummte ein Einkaufszentrum und lieferten sich eine regelrechte Schlacht mit der Polizei, bei der es zahlreiche Verletzte gab. Im Département Essonne im Großraum Paris wurden ein Kindergarten sowie mehrere Schulen und Geschäfte durch Brandstiftung zerstört. Bei einem Brand in einem dreistöckigen Wohnhaus in Athis-Mons erlitten zwei Menschen Rauchverletzungen, rund hundert weitere mussten in Sicherheit gebracht werden.
Innenminister in der Kritik
Wie auch in der Nacht zuvor versuchte die Regierung vergeblich, der Unruhen durch ein starkes Sicherheitsaufgebot Herr zu werden. Allein in der Region Ile-de-France waren rund 2300 Kräfte im Einsatz. Sieben mit Scheinwerfern und Kameras ausgerüstete Hubschrauber überflogen die betroffenen Pariser Vororte. Sarkozy hatte zuvor ein hartes Vorgehen angekündigt. Der Staat könne die Gewalt nicht akzeptieren, sagte Sarkozy nach einem Krisentreffen bei Premierminister Dominique de Villepin.
In der Nacht besuchte Sarkozy überraschend eine Polizeistation im Département Essonne im Süden von Paris, wo er sich mit festgenommenen Minderjährigen unterhielt. Sarkozy selbst war ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, nachdem er die Jugendlichen als "Abschaum" bezeichnet hatte. Kommunisten und Grüne forderten ihn daraufhin zum Rücktritt auf. Bewohner der Problem-Städte verlangten eine Entschuldigung. "Hier gibt es nichts für die Jugendlichen zu tun. Sarkozy hat das Feuer entzündet und bisher nicht gesagt, dass es ihm leid tut", sagte ein Migrant aus Nordafrika.
Bürger protestieren
In der Bevölkerung regt sich zunehmend Protest gegen die Gewalt: Die Bewohner eines Pariser Vorortes demonstrierten am Samstag für ein Ende der Ausschreitungen. Durch das rund 80.000 Einwohner zählende Aulnay im Nordosten von Paris zogen tausende Menschen, die ein Banner mit der Aufschrift "Nein zur Gewalt, ja zum Dialog" an ausgebrannten Autos vorbei durch die verwüsteten Straßen trugen.
Nach dem Übergreifen der seit zehn Tagen andauernden Krawalle auf die Pariser Innenstadt sieht sich die französische Regierung verstärkt zum Handeln gezwungen. Präsident Jacques Chirac berief für Sonntagabend den nationalen Sicherheitsrat ein, teilte sein Büro in Paris mit. Premierminister Dominique de Villepin kündigte für die kommenden Tage "konkrete Vorschläge" an, wie die Regierung die Unruhen randalierender Jugendlicher in den Griff bekommen will.
Experten sehen in dem Ausbruch der Gewalt einen Ausdruck für die lang aufgestaute Wut vieler Jugendlicher nordafrikanischer oder schwarzafrikanischer Herkunft. Die Aggression richte sich gegen ihre Behandlung durch die Polizei sowie gegen Rassismus, Arbeitslosigkeit und ihre Marginalisierung in der französischen Gesellschaft. Die Unruhen hatten in Pariser Vororten begonnen, nachdem sich zwei Jugendliche am 27. Oktober offenbar auf der Flucht vor der Polizei tödlich verletzt hatten. Danach hatten sich die Krawalle von Nacht zu Nacht über das Land ausgeweitet.