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"Wir müssen Jugendliche immunisieren"

Sabrina Pabst13. Januar 2015

Die muslimischen Gemeinden allein hätten nicht genug Ressourcen, um junge Menschen vor der Radikalisierung zu bewahren, sagt der Pädagoge Samy Charchira im DW-Interview. Die ganze Gesellschaft müsse sie unterstützen.

Anhänger jubeln am 20.04.2011 in der Innenstadt von Frankfurt am Main dem salafistischen Prediger Pierre Vogel zu. (Foto: picture-alliance/dpa/B. Roessler)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Deutsche Welle: Sie sind Mitglied der deutschen Islamkonferenz und arbeiten ehrenamtlich für den Verein "Düsseldorfer Wegweiser", der junge Menschen vor einer salafistischen Radikalisierung bewahren will. Wie hoch schätzen Sie und ihre Kollegen die Gefahr ein, die von diesen radikalisierten jungen Menschen ausgeht?

Samy Charchira: Eine überwältigende Mehrheit der Muslime lebt vollkommen im Einklang mit unserer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung. Wir haben einige Rückkehrer aus dem Krieg in Syrien in Deutschland, die zum Teil dermaßen traumatisiert sind, dass von ihnen keine Gefahr droht. Aber wir haben durchaus einige Hundert Männer und Frauen, von denen eine ganz konkrete Gefahr ausgeht. Diese stehen unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Doch da ist es schon zu spät.

Wir müssen mehr Präventionsarbeit leisten, wir brauchen mehr Ressourcen. Für uns als Muslime ist es wichtig, dass wir am Kampf gegen den gewaltbereiten Salafismus teilnehmen. Alle Moschee-Gemeinden in Düsseldorf sind bei "Wegweiser" Bündnispartner oder unterstützen uns bei unserer Jugendarbeit. Unser Anliegen ist es, nicht da anzugreifen, wo die Radikalisierung bereits vollzogen ist und eine Verrohung der Jugendlichen schon gestartet hat, sondern wir schauen, wo genau die Angebote sind, die sie dazu bringen, sich zu radikalisieren.

Haben Sie den Eindruck, dass die bisherige Präventionsarbeit zu spät ansetzt?

Muslimische Jugendliche gibt es schon seit 60 Jahren in Deutschland. Wir wissen, dass die Radikalisierung nicht innerhalb von Wochen geschieht, sondern schon einen mehrjährigen Prozess erfordert. Diese Jugendlichen müssen vorher schon auffällig geworden sein. Doch es wurde nicht entsprechend reagiert.

Charchira: "Neo-Salafismus ist kein muslimisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir haben viele Konvertiten in diesen Bewegungen."Bild: DW

Aus welchen Familien kommen die betroffenen Jugendlichen?

Sie kommen aus Familien mit all ihrer Vielfalt. Man kann nicht sagen, dass Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Familien verstärkt betroffen sind, sondern wir betreuen auch viele gut situierte Familien mit hohem Bildungsstand und finanzieller Sicherheit. Wir müssen uns genau mit diesem Phänomen beschäftigen, um die Auslöser für ihre Radikalisierung zu erkennen. Was die Jugendlichen alle gemein haben: Sie erfahren Ausgrenzung und Diskriminierung. Unter ihnen herrscht Perspektivlosigkeit.

Welche Rolle spielt in den Familien ihre Religion?

Wir haben Familien, die ein Stück religiös sind, wo aber ihre Kinder aus Sicht der Eltern zu religiös werden oder sich extremen religiösen Auffassungen anschließen. Wir haben auch viele muslimische Familien, in denen die Religion im Elternhaus keine große Rolle spielt. Wir kennen all die Jugendprediger, die mit den Jugendlichen einen ganz bestimmten Diskurs sehr gut pflegen - vor allem auch medial - und dafür sind Jugendliche anfällig. Unser Anliegen ist, einerseits die Familie zu unterstützen, damit dort wieder ein Miteinander möglich ist. Auf der anderen Seite wollen wir die Jugendlichen ein Stück immunisieren und an ihrer Dialogfähigkeit arbeiten, damit sie ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber solchen Predigern erhöhen, um diese Radikalisierungskette zu unterbrechen.

Glauben Sie, dass die Gesellschaft für das Thema sensibilisiert ist?

Mit "Wegweiser" gibt es in Düsseldorf eine zentrale Anlaufstelle. Wir haben ein großes Bündnis geschmiedet von weit mehr als über 50 Akteuren hier in der Umgebung. Auf diese Unterstützung sind wir angewiesen. Uns müssen entsprechende Hinweise gegeben werden, damit wir agieren können.

Wir wollen, dass muslimische Gemeinden, aus denen diese Jugendlichen kommen, effizienter mit uns die Jugendarbeit gestalten können. Wir müssen leider beobachten, dass muslimische Gemeinden im Moment nicht über die Mittel und die Ressourcen verfügen. Da wären wir als Gesellschaft gut beraten, wenn wir sie dabei unterstützen würden.

Was muss gesamtgesellschaftlich an der Präventionsarbeit verbessert werden?

Wir sprechen ja im Moment bei der deutschen Islamkonferenz über ein neues Konzept der muslimischen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Jugendarbeit ist ein großer Teil der davon. Wir müssen in weiten Teilen aber auch als Gesellschaft zusammenhalten und uns nicht durch solche Attentate wie in Paris auseinanderdividieren lassen. Wir wissen, Neo-Salafismus ist kein muslimisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir haben viele Konvertiten in diesen Bewegungen. Es betrifft uns alle und wir sollten uns diesem Problem stellen - mit viel Dialog, mit Kooperation und hohem Engagement. Das wird uns auch gelingen.

Samy Charchira ist Sozialpädagoge und Mitglied der deutschen Islamkonferenz. Er arbeitet ehrenamtlich für den gemeinnützigen Verein "Wegweiser" in Düsseldorf. Als Teil eines bundesweiten Netzwerks soll "Wegweiser" jungen Menschen helfen, die mit gewaltbefürwortenden neo-salafistischen Strömungen in Verbindung kommen.

Das Interview führte Sabrina Pabst.

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