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PolitikEuropa

"Charlie Hebdo": Ein Prozess um Frankreichs Seele

Andreas Noll
1. September 2020

Der Anschlag auf "Charlie Hebdo" markierte 2015 den Beginn einer Serie von islamistisch motivierten Morden in Frankreich. Sie haben das Land verändert. Jetzt beginnt auch die juristische Aufarbeitung.

Frankreich Erster Jahrestag Charlie Hebdo Anschläge Je suis Charlie
Ein Jahr nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" gedachten in Paris Tausende den Opfern mit einer SchweigeminuteBild: picture-alliance/dpa

Der Prophet selbst trauert um die Opfer - mit einem  "Je suis Charlie"-Schild in der Hand und Tränen in den Augen haben ihn die Satiriker auf das Titelbild ihrer "Ausgabe der Überlebenden" gehoben - wenige Tage nach dem blutigen Anschlag auf ihre Redaktion im Januar 2015. Dieses Mohammed-Cover hat sich eingebrannt in das kollektive Gedächtnis der Franzosen. "Tout est pardonné" - alles ist vergeben - schrieb die Redaktion in schwarzen Buchstaben über ihre erneute Mohammed-Karikatur.

Was wie ein Schlussstrich klingt, konnte natürlich keiner sein. Nicht für die Überlebenden, die immer noch damit kämpfen, die Ereignisse zu verarbeiten - und schon gar nicht für die französische Justiz. Vor einem Pariser Sondertribunal beginnt am Mittwoch der Prozess gegen 13 mutmaßliche Hintermänner des Anschlags. Die berühmte Mohammed-Karikatur wird zum Auftakt erneut veröffentlicht, abgedruckt in einer Sonderausgabe des Magazins.

"Charlie Hebdo": Erste Ausgabe nach dem AnschlagBild: picture-alliance/Charlie Hebdo/Handout

"Jetzt sind andere dran"

Zumindest einen symbolischen Schlussstrich gab es aber doch. Aus den alten Redaktionsräumen ist "Charlie Hebdo"schon lange ausgezogen. Das Magazin residiert heute an einem Ort, der der Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Wer den aktuellen Herausgeber Laurent Sourisseau alias "Riss" interviewen will, wird von drei Sicherheitsbeamten überwacht, die ihm nicht von der Seite weichen.

Als die Brüder Chérif und Saïd Kouachi am 7. Januar 2015 in die Pariser Redaktionsräume stürmten und dort elf Menschen erschossen, feuerten die Attentäter mit ihren Kalaschnikows auch auf "Riss". Eine Gewehrkugel zertrümmerte seine Schulter.

Der heute 53-Jährige überlebt. Doch Mohammed-Karikaturen, so kündigte "Riss" noch im Jahr des Anschlags an, werde er nicht mehr zeichnen. Man habe den Propheten karikiert, um das Prinzip zu verteidigen, dass man zeichnen darf, was man will. Aber nun seien andere dran.

Hat den Anschlag überlebt: Charlie-Hebdo-Autor Laurent SourisseauBild: Getty Images/AFP/M. Bureau

Viele Mitstreiter für dieses Prinzip hat das Satire-Magazin jedoch in den Jahren nach dem Anschlag nicht gefunden. "Ich will nicht, dass ein Sketsch über Mohammed mich daran hindert, meine Kinder aufwachsen zu sehen", begründete der bekannte Autor und Humorist Stéphane Guillon aus Anlass des dritten Jahrestags seine Zurückhaltung bei diesem Thema.

Erst Euphorie, dann Absturz

Dabei hatte der Anschlag, so schien es zumindest, eine ganze Nation zu Verteidigern der Meinungs- und Kunstfreiheit gemacht. Mehr als 1,5 Millionen Menschen gingen am 11. Januar auf die Straße, um ihre Solidarität mit "Charlie Hebdo" zu dokumentieren und für das Recht auf Meinungsfreiheit zu demonstrieren - auch mehr als 40 Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt hakten sich in Paris bei der "Je suis Charlie"-Demo unter.

Doch die nach dem Anschlag erwachte Zuneigung der Franzosen zu der schon immer umstrittenen Satire-Zeitschrift war nur von kurzer Dauer. Die Zahl der Abonnenten schoss in wenigen Wochen von gut 40.000 Abonnenten auf 260.000 Exemplare in die Höhe. Im Laufe der Jahre fiel die Auflage dann aber wieder auf unter 35.000 Exemplare zurück. 

Gedenken der Opfer der Anschläge: In Paris versammeln sich am 11. Januar 2015 mehr als 40 Staats- und RegierungschefsBild: Reuters/Wojazer

Die Massendemonstration vom 11. Januar 2015 war nicht nur getragen vom Wunsch nach einem deutlichen Zeichen für die Meinungsfreiheit, sondern auch von der Hoffnung auf eine neue Einigkeit in der Gesellschaft. "Marches républicaines" - republikanische Märsche - hatten die Franzosen ihre Protestzüge getauft. Darin kam die Hoffnung nach einem einigen Frankreich zum Ausdruck, in dem die Bevölkerung zusammensteht.

"Ich bin nicht Charlie"

Doch das Bild einer neuen Einigkeit bekam schnell Risse. Besonders stark waren die Vorbehalte gegen "Charlie Hebdo" in den Banlieues. Aus den Vororten wurden dem Erziehungsministerium "Störfälle" bei den Gedenkveranstaltungen gemeldet. Mehr als 200 Schülerinnen und Schüler hätten sich geweigert, der Opfer zu gedenken. Viele von ihnen hätten Verständnis für die Ermordung der Satiriker gezeigt, die den Propheten Mohammed zum Gegenstand ihrer Karikaturen gemacht hatten.

Nicht alle wollen "Charlie sein" - Vielen Franzosen fällt die Identifikation mit der radikalen Religionskritik schwerBild: AFP/Getty Images/K. Tribouillard

Dass die Politik bis heute kein Rezept gegen die wachsende Spaltung in der Gesellschaft gefunden hat, zeigt auch die aktuelle Debatte über ein "Gesetz gegen Separatismus", das der neue Premierminister Jean Castex im Juli angekündigt hat. Staatspräsident Emmanuel Macron wird die Grundzüge dieses Gesetzes womöglich bei einer Rede im Pantheon in dieser Woche zum 150. Jahrestag des Endes der Monarchie vorstellen.

Die sichtbarste Veränderung seit den Anschlägen im Land ist jedoch die verstärkte Präsenz von Sicherheitskräften. Schon auf der Suche nach den später von einer Spezialeinheit getöteten Kouachi-Brüdern mobilisierte Frankreich alle verfügbaren Kräfte.

Land im Ausnahmezustand

Nach einer koordinierten Anschlagsserie auf den Pariser Konzertsaal Bataclan sowie Restaurants und Bars der Hauptstadt im November 2015 verhängte der damalige Staatspräsident François Hollande dann den Ausnahmezustand. Dies ermöglichte Ermittlern mehr als 4500 Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss - und soll dabei geholfen haben, mehr als 30 Anschläge im Land zu vereiteln.

Seit mehr als fünf Jahren Alltag im französischen Stadtbild: Soldaten sichern öffentliche PlätzeBild: Getty Images/AFP/C. Hartmann

Fast zwei Jahre blieb der Ausnahmezustand in Kraft, bevor ihn Präsident Macron im November 2017 aufheben ließ. Ein zeitgleich in Kraft getretenes neues Anti-Terror-Gesetz verschaffte den Sicherheitskräften allerdings fast so weit reichende Befugnisse wie während des Ausnahmezustands.

Es erleichtert unter anderem das Abhören und Überwachen von Verdächtigen und erlaubt die jederzeitige Kontrolle von Personen, Gepäck und Autos im Umkreis von 20 Kilometern von Grenzübergängen, Flughäfen, Seehäfen und Bahnhöfen.

Wenige Tage nach dem Anschlag auf die Charlie-Hebdo-Redaktion beauftragte die Regierung die französischen Streitkräfte mit der Sicherung zentraler Orte im Land. Mit der sogenannten "Opération Sentinelle" stellt die Armee für diese Überwachung bis heute mehrere tausend Soldaten bereit, die öffentliche Gebäude, aber auch Schulen, Theater oder Medienhäuser sichern und in Bahnhöfen, Flughäfen und Fußgängerzonen patrouillieren.

Glaswand schützt Eiffelturm

Ebenfalls Schutz vor weiteren Anschlägen sollen Betonbarrieren bieten, die an sensiblen Punkten installiert wurden. Der mit fast sieben Millionen Touristen im Jahr besonders beliebte Eiffelturm ist seit dem vergangenen Jahr mit einer kugelsicheren Glaswand umzäunt.

Die Einschränkungen im Alltag nehmen die freiheitsliebenden Franzosen bislang erstaunlich gelassen hin. Die permanente Terrorgefahr gehört heute zu einem Alltag, an den man sich gewöhnt hat. Genauso wie an die Debatte unter den Fachleuten, die über eine mögliche religiöse Dimension der Anschlagsserie streiten.

Lassen sich die Anschläge mit einer radikalen, salafistischen Auslegung des Islams erklären, oder wollten hier Jugendliche am Rande der Gesellschaft vor allem ihren radikalen Bruch mit Frankreich dokumentieren?

Die Charlie-Hebdo-Attentäter sind tot, aber in Paris beginnt jetzt der Prozess gegen die HintermännerBild: picture-alliance/dpa/epa/French Police

Einige Antworten auf diese Fragen wird womöglich der Prozess gegen die 13 mutmaßlichen Hintermänner des Anschlags liefern. Auch wenn der Prozess in der Öffentlichkeit bislang kein dominierendes Thema ist, lässt die Justiz das Verfahren ausnahmsweise filmisch dokumentieren - als historisches Dokument. Wie das Mohammed-Cover der "Ausgabe der Überlebenden".

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