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Gesellschaft

"Der Staat möchte Sicherheit demonstrieren"

Andreas Noll
2. September 2020

Gut fünf Jahre nach dem Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" werden die Ereignisse juristisch aufgearbeitet. Die Wunden des Terrors sind bis heute nicht verheilt, sagt Frankreich-Forscherin Julie Hamann der DW.

Soldaten unter dem Eiffelturm Paris
Soldaten patrouillieren 2015 am Eiffelturm in Paris: Noch immer will Frankreich mit Militär Stärke zeigen Bild: Getty Images/Afp/Bertrand Guay

Deutsche Welle: Der gesamte Prozess gegen die mutmaßlichen Hintermänner des Anschlags auf die Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" vor einem Pariser Sondertribunal wird filmisch dokumentiert - als historisches Zeugnis. Ist das auch die Stimmung in der Bevölkerung, dass es sich hier um ein historisches Ereignis handelt?

Julie Hamann: Bisher habe ich den Eindruck, dass in der Öffentlichkeit das Thema noch keine große Rolle spielt. Seit der Attacke auf "Charlie Hebdo" mit einem Dutzend Toten vor fünf Jahren ist viel passiert: Es gab in Frankreich noch größere Anschläge, wie die in Paris im November 2015 und in Nizza im Jahr darauf. Dann kam die Gelbwesten-Bewegung und die Streiks gegen die Rentenreform, jetzt die Corona-Pandemie. Es gibt also viele Spannungen. Ich habe daher das Gefühl, dass sich viele Franzosen nur widerwillig mit dem Thema befassen. Die Aufmerksamkeit kann aber natürlich in den nächsten Wochen des Prozesses wachsen. 

Die Solidaritäts-Demonstration für "Charlie Hebdo" mit mehr als einer Million Teilnehmern und über 40 Staats- und Regierungschefs im Januar 2015 sollte ein Zeichen gegen die Spaltung in der französischen Gesellschaft sein. Was ist daraus geworden?

Die Demonstrationen mit mehreren Millionen Menschen hatten natürlich eine enorme Symbolkraft, genau wie der weit über die Grenzen Frankreichs bekannte Slogan "Je suis Charlie". Aber schon damals wurde schnell klar, dass diese republikanische Einheit Risse hat. Angefangen mit den Debatten, dass sich eben nicht alle unter "Ich bin Charlie” wiedergefunden haben und das auch zum Ausdruck gebracht haben. In verschiedenen Schulen in Frankreich wollten Schüler zum Beispiel nicht an der Schweigeminute teilnehmen.

Die Massendemonstration mit Millionen Teilnehmern und Regierungschefs aus aller Welt hatte "hohe Symbolkraft"Bild: REUTERS/Y. Herman

Dann gibt es auch noch einen anderen wichtigen Punkt: Zwei Tage nach dem Anschlag kam es zur Geiselnahme in einem Supermarkt für koschere Lebensmittel in Paris. Aus der jüdischen Gemeinschaft kam danach die Klage, dass die Solidarität mit den Juden nur im Hintergrund blieb.

Die Diskussion um die Einheit in Frankreich, um die Rolle der Religion und besonders die Rolle des Islam, um Integration und soziale Missstände wird nun schon seit vielen Jahren geführt. Laut und teilweise virulent, allerdings ohne dass sie zu mehr Einheit geführt hätte. Die Wunden sind noch lange nicht geheilt.

An welchen Wunden leidet Frankreich vor allem?

Frankreich hat lange gedacht, dass der republikanische Gedanke, der dem Land zugrunde liegt, als philosophisches Grundgerüst für den Staat ausreicht. Doch das ist offensichtlich nicht der Fall. Nach den Anschlägen waren viele schockiert, dass es eben junge Franzosen waren, die diesen Terror organisiert haben. Junge Franzosen, die die französische Schule durchlaufen haben, die in Frankreich aufgewachsen sind, und dennoch in einer Welt leben, in der sie sich gegen die französische Gesellschaft stellen.

Viele Konflikte, die "gar nicht existieren dürften": Julie Hamann von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige PolitikBild: Privat

Diese Schwächung des republikanischen Gedankens betrifft aber auch andere Bereiche. In Frankreich gibt es einen Konflikt rund um den Zentralismus und um die Beziehungen zwischen Stadt und Land. Die Gelbwesten-Bewegung hat gezeigt, dass sich Teile des Landes vom Machtzentrum Paris und der Politik, die dort gemacht wird, abgekoppelt fühlen. Und so gibt es viele Konflikte, die im Prinzip unter dem republikanischen französischen Einheitsgedanken gar nicht existieren dürften, die aber trotzdem derzeit hervorbrechen.

Welche Antworten hat der Staat auf den Terror gefunden: mehr Sicherheit durch mehr Polizei oder mehr Zusammenhalt durch soziale Maßnahmen?

Genau diese zwei Stränge machen die Reaktion Frankreichs auf den Terrorismus aus. Wobei ich sagen würde, dass der Aspekt der Sicherheit die sozialen Maßnahmen zum Beispiel im Bildungsbereich, die getroffen wurden, überwiegt.

Der Staat möchte Sicherheit demonstrieren durch eine hohe Präsenz von Militär, die alltäglich geworden ist, aber auch durch neue Gesetze. Außerdem gibt es auch noch ein internationales Element. Schon vor den Anschlägen hat sich Frankreich dem Kampf gegen Terrorismus verschrieben, das hat sich seitdem verstärkt. Die Anschläge waren ein Moment, wo klar wurde: Bei der Terrorismusbekämpfung muss Europa viel stärker zusammenarbeiten.

Die Politikwissenschaftlerin Julie Hamann arbeitet im Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

Das Gespräch führte Andreas Noll.

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