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Chemienobelpreis für Spielerei mit dem Erbgut

Brigitte Osterath
3. Oktober 2018

Der Nobelpreis geht an drei Forscher, die der Evolution auf die Sprünge geholfen haben. Indem sie Erbgut verändern, erschaffen sie Lebensbausteine, die die Natur nicht hinbekommen hat. Gruselig? Nein, äußerst nützlich.

Nobelpreis Chemie 2018 | Winter & Smith & Arnold

In die Natur einzugreifen und sozusagen "Gott zu spielen" - vor allem in Deutschland hat diese Forschung einen sehr schlechten Ruf. Zu groß ist die Angst davor, was dabei alles schief gehen könnte. Die enormen Vorteile aber, die die Gentechnik uns allen schon jetzt bietet, werden schnell übersehen oder sind den meisten gar nicht bekannt.

Das Nobelpreiskomitee sieht das anders. Es hat heute drei Forscher mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet, die genau das getan haben: Sie haben in die Evolution eingegriffen und dadurch im Labor etwas erschaffen, das die Natur selbst nicht hervorgebracht hat. Oder, wie Claes Gustafsson vom Nobelpreiskomitee es nennt: "Sie haben die Prinzipien von Charles Darwin im Reagenzglas angewendet" und dadurch "die Evolution 100fach beschleunigt".

Frances Arnold vom California Institute of Technology in Pasadena in den USA erhält eine Hälfte des Preises für die gerichtete Evolution von Enzymen. Mit ihrer Methode lassen sich Enzyme kreieren, die unterschiedlichste chemische Reaktionen beschleunigen. Ohne Enzyme gäbe es kein Leben, sie spielen überall eine tragende Rolle, auch in der Industrie - was erklärt, wie breit einsetzbar Arnolds Methode ist.

Die zweite Hälfte des Preises geht an George Smith von der University of Missouri im US-Bundesstaat Columbia und an Gregory Winter vom MRC Laboratory of Molecular Biology im britischen Cambridge. Beide haben Viren genetisch verändert und dadurch eine neue Methode erschaffen, um beispielsweise Medikamente zu entwickeln. 

"Hut ab vor Smith, Winter und Arnold", sagt David Liu von der Harvard-Universität in der US-Stadt Cambridge, der selbst an gerichteter Evolution forscht. "Sie haben zu einem multidisziplinären Forschungsfeld beigetragen, das wunderschön Chemie, Molekularbiologie und Proteinwissenschaft verbindet." 

"Zum Wohle der Menschheit"

Alfred Nobel richtete den Nobelpreis ein, um "denen zugeteilt zu werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben". Das Nobelpreiskomitee versicherte den teilweise etwas zögerlichen Journalisten heute in Stockholm mehrmals, dass genau das beim diesjährigen Chemienobelpreis der Fall sei. 

Mit den Methoden der Nobelpreisträger entsteht unter anderem Insulin für Diabetiker, nennt Claes Gustafsson ein Beispiel. Ohne Gentechnik müsste Insulin wie früher aus Schweinen gewonnen werden und wäre damit lange nicht so verträglich und in großer Menge beschaffbar wie das gentechnisch hergestellte menschliche Insulin.

"Man kann so auch bessere Enzyme für Waschmittel herstellen", sagt Brian Lohse, Professor für molekulare und zelluläre Pharmakologie an der Universität Kopenhagen in Dänemark. Indem Schmutz spaltende Eiweiße im Labor künstlich verändert werden, funktionieren sie beispielsweise bei geringeren Temperaturen als das normalerweise der Fall wäre. Die Wäsche wird dann schon bei 30 Grad sauber statt erst bei 60 Grad, das spart Energie.

Gerichtete Evolution kann vielleicht auch dabei helfen, Korallenriffe vor dem Sterben zu bewahren. Forscher arbeiten daran, im Labor Korallen zu züchten, die mit wärmerem und saurerem Wasser zurechtkommen. Solche Arten könnten den Klimawandel besser überstehen.

So funktioniert's

Die meisten Enzyme sind Eiweiße, beziehungsweise Proteine. Sie sind lediglich das Resultat einer ganz bestimmten Erbgutsequenz. Verändert man im Labor die Erbgutsequenz – beispielsweise durch Mutationen auslösendes UV-Licht, so entstehen Eiweiße mit neuen, bisher unbekannten Eigenschaften. Viele dieser Eiweiße sind vermutlich nicht besser als die bereits bekannten – aber in einigen wenigen Fällen kommt dabei etwas heraus, das einen Tick besser ist.

Frances Arnold kam in den 1990er Jahren auf die Idee, diese leicht verbesserten Eiweiße herauszufiltern und erneut zu verändern – so lange, bis dabei ein Eiweiß mit wirklich guten Eigenschaften entsteht.

George Smith und Gregory Winter etablierten das Phagen-Display, ein in der Biotechnologie mittlerweile breit eingesetztes Verfahren. Dabei verändern Forscher das Erbgut eines Virus, das Bakterien befällt. Das führt dazu, dass das Virus auf seiner Oberfläche andere Eiweiße ausbildet. Findet sich ein Virus mit dem gewünschtem Eiweiß, lässt sich das Erbgut daraus gewinnen und analysieren. Man weiß dann, wie dieses Eiweiß aufgebaut ist.

Die neue Methode habe eine "Revolution in der Medikamentenentwicklung" ausgelöst, sagte Olga Botner vom Nobelpreiskomitee. Etliche Arzneistoffe, etwa gegen Autoimmunkrankheiten, Milzbrand und Krebs, seien so entstanden und würden derzeit am Menschen getestet.

Gegengifte und Krebsmedikamente

Brian Lohse von der Uni Kopenhagen entwickelt mit dem Phagen-Display unter anderem Gegengifte gegen Schlangengifte, sagt er im DW-Interview. Dazu versetzt er das Schlangengift im Reagenzglas mit allen möglichen genetisch veränderten Viren, die unterschiedliche Eiweiße auf ihrer Oberfläche tragen. "Wenn etwas bindet, wäscht man die unerwünschten Viren einfach ab", erklärt er. "Dann können wir das Erbgut des gebundenen Virus isolieren, das Eiweiß im Labor damit synthetisieren und es genauer untersuchen."

In einem anderen Projekt untersucht Lohse Enzyme, die in Krebszellen besonders häufig vorkommen. "Eine Substanz zu finden, die an ein solches Enzym bindet, ist schon sehr viel wert", erklärt er. Sie könnte ein Ausgangsstoff für ein neues Krebsmedikament sein.

Die Methode des Phagen-Displays ist "schnell und billig", sagt Lohse. "Es gibt mehrere Unternehmen, die Bibliotheken mit einer Milliarde unterschiedlicher Viren verkaufen." Innerhalb einer Woche ließen sich mehrere solcher Bibliotheken durchtesten und Ausgangsstoffe für alle möglichen Medikamente finden.

Sehr cooler Ted-Talk von Frances Arnold!

Big Business

Schon lange hat die Forschung der drei Nobelpreisträger die Universitätslabore verlassen und ist zum großen Geschäft geworden. Pharmaunternehmen weltweit nutzen die Verfahren der Nobelpreisträger. Auch Brian Lohse arbeitet mit etlichen Pharmafirmen zusammen, darunter das in Dänemark ansässige Unternehmen Novo Nordisk, das unter anderem Insulin für Diabetiker herstellt.

Selbst das Erstellen von Phagen-Bibliotheken mit Milliarden unterschiedlicher Viren ist ein Geschäftszweig. Etliche Firmen bieten das an, sagt Lohse. "Man sagt ihnen, woran man interessiert ist, und sie liefern einem die passende Bibliothek."

Und die Nobelpreisträger selbst? Die werden sich zweifellos über die Anerkennung ihrer Arbeiten freuen - das Geld aus der Nobel-Stiftung aber haben sie vermutlich nicht nötig.

Arnold Frances beispielsweise hält über 50 US-Patente und berät inzwischen Pharmazie- und Biotechnologiefirmen. Sie war Mitgründerin von Gevo, einem Unternehmen, das an Chemikalien und Biokraftstoffen aus erneuerbaren Rohstoffen arbeitet. Derzeit leitet sie zwei weitere Biotechnologiefirmen.

Gregory Winter gründete 1989 das Unternehmen Cambridge Antibody Technology, das er 2006 an den Pharmariesen Astra Zeneca verkaufte. Es produziert ein Medikament gegen Rheuma und entzündliche Darmerkrankungen. Eine weitere Firma von Winter wurde im Jahr 2006 von dem Pharmakonzern GlaxoSmithKline übernommen. Sein derzeitiges Unternehmen heißt Bicycle Therapeutics und entwickelt Krebsmedikamente. 

Lediglich George Smith widmete sich auch nach seiner Entdeckung weiter der rein akademischen Laufbahn. Inzwischen ist er emeritiert.

 

 

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