Chinas Rolle im Zweiten Weltkrieg
12. August 2005Aus der Sicht vieler Chinesen begann der Zweite Weltkrieg schon am 7. Juli 1937. An diesem Tag brachten japanische Truppen die Marco-Polo-Brücke in der Nähe von Beijing nach heftigem Feuergefecht mit chinesischen Verteidigern unter ihre Kontrolle. Diese Schlacht, in der chinesische Truppen zum ersten Mal den längst in China vormarschierenden Japanern militärischen Widerstand leisteten, markiert nach chinesischer Lesart den eigentlichen Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie nennen ihn auch "Krieg der Internationalen Allianz gegen den Faschismus der Achsenmächte Deutschland-Italien-Japan". Der Pazifische Krieg - nach westlicher Definition der zwischen Japan und den USA - ist für Chinesen eine logische Folge des chinesisch-japanischen Kriegs.
Die Ansicht, dass der Zweite Weltkrieg eigentlich in China angefangen und dort sein Ende gefunden hat, also acht statt sechs Jahre gedauert habe, findet auch im Westen hie und da ihre Anhänger. Ihre Gegenspieler kritisieren daran vor allem, dass durch diese Interpretation die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg bagatellisiert werde.
Lohn für den Kampf
Dass China, wie Mao Zedong einst feststellte, als eines der größten Länder innerhalb der Anti-Faschismus-Allianz bis zum Kriegsende durchgekämpft hatte, hat seine Position innerhalb der Völkergemeinschaft wesentlich gestärkt. Die China zuerkannte Stellung als eines der Gründungsländer der UNO und als Mitglied des Ständigen Sicherheitsrats mit Veto-Recht sind wichtige Indizien dafür.
Ohne die Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945 hätte sich der Pazifische Krieg - somit der Zweite Weltkrieg - in Asien sicher um mehr als vier Monate verlängert, lautet eine im Westen verbreitete These. Denn erst die Niederlage der deutschen Streitkräfte versetzte die USA in die Lage, konzentriert die Japaner zu bekämpfen. Das Gleiche gilt für die sowjetische Rote Armee. Ohne den Fall Berlins im Mai wäre die Kriegserklärung der Sowjetunion gegen Japan im August 1945 unmöglich gewesen.
Mehr als 20 Millionen tote Chinesen
Lange Zeit haben chinesische Experten über westliche Geschichtsbücher geklagt, in denen ihrer Einschätzung nach die wichtige Rolle Chinas im Zweiten Weltkrieg entweder zu gering oder gar nicht thematisiert worden ist. Hu Dekun, Leiter der Chinesischen Forschungsgesellschaft für den Zweiten Weltkrieg, hat sich im Juli 2004 in einem Interview mit "Sohu", einem der größten Internet-Portale in China, in diesem Sinne geäußert. Für Professor Hu war China eine der vier führenden Mächte gegen den Faschismus. Seiner Auslegung nach brach der Zweite Weltkrieg zuerst in China aus und dauerte dort auch am längsten. Er meint, westliche Historiker hätten entweder überhaupt nicht oder wie so oft nur "flüchtig" China als eines der Hauptschlachtfelder im Zweiten Weltkrieg beschrieben. Das bezeichnet er als unfair.
Nach in China weit verbreiteter Darstellung gab es im Zweiten Weltkrieg auf eigener Seite 20 bis 25 Millionen Tote. Im Westen wird die Zahl meist mit zehn Millionen angegeben. Zusätzlich starben 1,3 Millionen japanische Soldaten auf chinesischem Boden. Aufgrund des zähen Widerstandes habe Japan, so die weitere, auch offizielle, Argumentation, den größten Teil seiner Armee in China stationieren müssen. China habe damit Japan daran gehindert, weitere Streitkräfte gegen die USA einzusetzen.
Gegen die offizielle Lesart
Seit einiger Zeit gibt es in China auch weit von der offiziellen Version von Chinas Rolle im Zweiten Weltkrieg abweichende Ansichten. In einem am 20. Oktober 2004 auf dem Militärforum des Internet-Betreibers "china.com" veröffentlichten Beitrag wurde zum Beispiel behauptet, dass erstens China nicht aus eigener Kraft den japanischen Aggressor hätte besiegen können und zweitens China nicht das Hauptschlachtfeld gegen Japan darstellte. Der Verfasser stützte sich auf japanische Quellen. Demnach sind 400.000 japanische Militärs in China getötet worden, das sind 22 Prozent aller Toten, die Japans Armee im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte; die USA aber hätten weitaus mehr japanische Soldaten getötet, nämlich 1.200.000 (64 Prozent).
Ferner wird darauf aufmerksam gemacht, dass ohne die USA die starken japanischen Seestreitkräfte nie und nimmer von den Chinesen oder sonstigen Ländern in die Schranken hätten verwiesen werden können. Die Marine war ja die eigentliche Stütze Japans, welches sich als Land des Meeres versteht. Für den Verfasser sei also die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die USA die tatsächlichen Bezwinger des totalitären Japans sind.
China im Bürgerkrieg
China versank nach dem Vertreiben der Japaner schnell im Sumpf des Bürgerkriegs. Für manche westliche Beobachter lag das auch an einer falschen Politik der USA in China. Dieter Kuhn, Verfasser mehrerer Publikationen über China, weist beispielsweise in seinem jüngsten Buch “Der Zweite Weltkrieg in China“ darauf hin, dass am Ende des Pazifischen Kriegs die US-Regierung die politischen Kräfteverhältnisse in China falsch einschätzte und dadurch eine folgenschwere China-Politik betrieben habe. Ihm zufolge habe Jiang Kaischek, bei der für Chinas Schicksal entscheidenden Begegnung mit Mao Zedong in Chongqing am 28. August 1945 aus einer Position der vermeintlichen Stärke heraus verhandelt, weil er sich der Unterstützung der Amerikaner sicher glaubte. Die Verhandlungen scheiterten und es folgten vier Jahre Bürgerkrieg mit weiteren Hunderttausenden Toten.
Am 15. August 2004 wurde ein Denkmal im Bezirk Hutou der Stadt Hulin im Nordosten Chinas enthüllt. Es sollte das Denkmal des letzten Kampfplatzes im Zweiten Weltkrieg sein. Nach der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua war Hutou der Ort, wo eine japanische Einheit trotz kaiserlicher Kapitulationserklärung am 15. August noch bis zum 26. August gekämpft hatte, bis sie von der sowjetischen Armee überwältigt wurde. Während also im Westen mitunter darüber diskutiert wird, ob der Zweite Weltkrieg doch in der polnischen Stadt Wielun und nicht auf der Danziger Westerplatte begonnen hat, steht für die Chinesen zumindest außer Zweifel, wo dieser Krieg endete: in China.