Chinas Russland-Problem
12. März 2022Eine Woche tagt der Nationale Volkskongress in Peking. Als Premier Li Keqiang zum Abschluss am Freitag vor die Presse tritt, fragen Journalisten auch nach Chinas Haltung zur russischen Invasion in der Ukraine. Eine "wirklich beunruhigenden Lage" konstatiert Li in der Ukraine und ruft zu "äußerster Zurückhaltung" auf. Kritik an der Invasion oder auch nur eine Distanzierung von Moskau sind nicht zu hören. Kritisiert werden stattdessen die internationalen Sanktionen gegen Russland.
Schon am Montag hatte Außenminister Wang Yi klar gemacht: "Egal, wie tückisch der internationale Sturm ist, China und Russland werden ihre strategische Entschlossenheit aufrechterhalten und die umfassende kooperative Partnerschaft in der neuen Ära vorantreiben". Das Verhältnis zu Russland gehöre "zu den wichtigsten bilateralen Beziehungen in der Welt" und trage bei zu "Frieden und Stabilität", erläuterte Chinas Chef-Diplomat. "Die Freundschaft zwischen beiden Völkern ist felsenfest."
China und Russland teilen nicht nur eine über 4000 Kilometer lange Grenze. Auch ihre Wirtschaften ergänzen sich: Energie und Rohstoffe fließen nach China, Industrieprodukte nach Norden. Beide Staaten werden autoritär regiert. Und untermauern ihre Herrschaft mit Erzählungen von der historischen Größe ihrer Nationen. Beide eint auch die Gegnerschaft zu den USA: "Für China ist in den Beziehungen zu Russland das geopolitische Element entscheidend", erläutert Maximilian Mayer.
Im DW-Interview führt der Bonner Politikwissenschaftler weiter aus: "Das ist der Kern der Partnerschaft: Eine Form der strategischen Zusammenarbeit, die versucht, die US-amerikanische Hegemonie, so wie sie in Moskau und Peking wahrgenommen wird, zurückzudrängen und einen Gegenpol in einer multipolaren Weltordnung zu bilden."
Freundschaft "ohne Grenzen"
Diese strategisch Zusammenarbeit wurde am 4. Februar in die Form einer gemeinsamen Erklärung gegossen, die eine "Freundschaft ohne Grenzen" beschwört. Drei Wochen vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine hatten Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele für einen geostrategischen Schulterschluss genutzt. China unterstützt in der Erklärung die Kritik Russlands an der NATO-Osterweiterung.
Umgekehrt wird die trilaterale Sicherheitspartnerschaft Australiens, Großbritanniens und der USA, AUKUS, als sicherheitspolitisch kontraproduktiv angeprangert. Die NATO solle ihren ideologisierten "Kalter-Krieg-Ansatz" aufgeben, lautet die Forderung. Beide Seiten streben eine andere Weltordnung an.
Chinesische Normen, russische Hardpower
Allerdings ist in der gemeinsamen Erklärung auch die Rede von universalen Werten, von Menschenrechten, Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit. In seinen öffentlichen Bekenntnissen versucht Peking deshalb auch einen kniffligen Balanceakt: Einerseits in chinesischer Tradition den Grundsatz der territorialen Unverletzlichkeit und Souveränität aller Staaten zu betonen.
Und andererseits im Blick auf die Ukraine - nach mehrfacher Osterweiterung der Nato - Russland ein Recht auf die Berücksichtigung seiner "legitimen Sicherheitsforderungen" zuzugestehen. Aber spätestens nach der Enthaltung Chinas bei der Verurteilung des russischen Angriffs durch 141 Staaten in der UN-Generalversammlung muss man festhalten: Peking steht klar an der Seite Putins.
Das trifft allerdings das Selbstverständnis chinesischer Eliten. Für die, erklärt Mayer, sei China auch eine normative Macht, die ein gewisses Werteverständnis habe. Diese Werte seien zwar teils andere als die des Westens, aber es sind immer noch Werte und Normen als Grundlage von globaler Koordination und Diplomatie. "Und von der russischen Seite sehen wir hingegen momentan reine auf Hardpower basierende Machtpolitik. Trotzdem hat sich Präsident Xi offenbar dafür entschieden, mit Russland weiterhin in einem Boot zu sitzen."
China in Mithaftung
Das hat Folgen für die Wahrnehmung Chinas. "Sie wissen, dass sie als mitschuldig angesehen werden, dass sie allmählich als Teil eines Kontinuums der Bedrohung durch Russland betrachtet werden", beschreibt Andrew Small, China-Experte beim German Marshall Fund, den Kollateralschaden für die chinesischen Beziehungen zu Europa.
Im DW-Interview führt Small weiter aus: "Das ist schädlich für die Zukunft. Denn es findet ein Umdenken in der Außenpolitik statt. Und da setzt man sich auch mit den wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China auseinander und bereitet sich auf Szenarien vor, die chinesische Invasionen beinhalten - insbesondere was Taiwan betrifft."
Auch sonst sind chinesische Interessen vor allem negativ betroffen. Zum einen auf der wirtschaftlichen, aber vor allem auch auf der strategischen Ebene, analysiert Maximilian Mayer: "Die NATO dürfte insgesamt gestärkt aus diesem Konflikt herausgehen. Der Fokus der US-Amerikaner wird weiterhin auf der Asien-Pazifik-Region liegen. Es könnte sogar sein, dass auch die Europäer künftig eine größere Rolle im asiatisch-pazifischen Raum spielen."
Wechselvolle Geschichte
Die jetzt beschworene Freundschaft zwischen Russland und China ist historisch betrachtet nicht der Regelfall. Ende der 1960er Jahre zum Beispiel haben sich Soldaten der beiden kommunistischen Atommächte noch erbitterte Feuergefechte am Grenzfluss Ussuri geliefert. Russland hatte sich im Zuge seiner kolonialen Ausdehnung nach Osten im 19. Jahrhundert weite Gebiete angeeignet, auch chinesische und chinesisch dominierte. Noch 1969 beklagte China, vom Zarenreich in ungleichen Verträgen zur Aufgabe von 1, 5 Millionen Quadratkilometern chinesischen Territoriums gezwungen worden zu sein - eine Fläche dreimal so groß wie Frankreich.
Die Beziehungen zu Russland seien aber auf absehbare Zeit zu wichtig, um das Thema überhaupt anzusprechen, urteilt China-Experte Small. "Die Russen fühlen sich inzwischen viel sicherer in Bezug auf den Osten. Auf der militärischen Seite lässt sich das daran ablesen, dass die Russen so viele Truppen von der Grenze zur Mongolei und zu China abgezogen haben."
Am Ende ist es mit den chinesisch-russischen Beziehungen wie mit allen Beziehungen zwischen Staaten. Sie sind geleitet von Zweckmäßigkeit und Interessen, nicht von Sympathie und Zuneigung.
Russland unberechenbarer Partner
Putin musste sich schon viel länger nach Osten wenden aufgrund der Wirtschaftssanktionen, die es seit 2014 schon gab, hält Maximilian Mayer fest. "Die Frage ist, ob dieser längerfristige Prozess irgendwann alle Wirtschaftssektoren und strategischen Sektoren so tiefgreifend betrifft, dass es gar keine andere Option mehr für Russland als die Ausrichtung nach China gibt."
Die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit und die geopolitische Zusammenarbeit könnten Russland immer stärker an China binden. Mit Russland als dem schwächeren Partner. "Wobei das Bild des Juniorpartners etwas irreführend ist", korrigiert Mayer. "denn selbst als Juniorpartner wird Russland aufgrund seines Status als Atommacht autonom bleiben und damit unberechenbar für Peking."
Während China für Russland immer unentbehrlicher wird, ist für Peking der Nachbar im Norden zwar unbequem, er erweist sich aber sonst in vielerlei Hinsicht als sehr nützlich. Zumindest im Moment.