"Chirurgischer Schlag" gegen Korruption
9. November 2016Es war die wohl drastischste Maßnahme zur Bekämpfung von Korruption in Indien seit der Unabhängigkeit 1947. Am Dienstagabend erklärte der indische Premierminister Narendra Modi in einer überraschenden Fernsehansprache, dass sämtliche 500- und 1000-Rupien-Scheine ab Mitternacht an Gültigkeit verlieren. Damit solle Falschgeld aus dem Verkehr gezogen und die grassierende Schattenwirtschaft eingedämmt werden, argumentierte Modi. Die nächsten zwei Tage sind alle Banken und Postämter landesweit geschlossen. Erst dann können die Bürger ihre alten Banknoten gegen 100-Rupien-Scheine (umgerechnet etwa 1,35 Euro) umtauschen, die nun größte legale Banknote im Land.
In Indiens sozialen Netzwerken wurde die Entscheidung als "chirurgischer Schlag" getauft, in Anlehnung an die indischen Militäraktionen im pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs. Noch am selben Abend kam es in allen größeren Städten zu Hamsterkäufen. Schließlich blieb den Konsumenten noch bis Mitternacht, um mit ihren 500- und 1000-Rupien-Scheinen einzukaufen. An vielen Banken standen riesige Menschenmassen Schlange.
Internetgemeinde jubelt
Varinder Singh hat von all dem Trubel nichts mitbekommen. Erst in der Früh machte ihn der Ticketverkäufer am Busbahnhof von Amritsar, der indischen Grenzstadt zu Pakistan, darauf aufmerksam, dass seine Geldscheine nichts mehr wert seien. Der 19-jährige IT-Student nahm es gelassen, auch wenn ihm für die nächsten zwei Tage nur umgerechnet rund drei Euro zur Verfügung stehen. "Irgendwie werde ich schon durchkommen", sagt er. Wie er den Busfahrer bezahlen wird, weiß er allerdings noch nicht.
Ein Kioskverkäufer am Busbahnhof zeigt sich hingegen besorgt: "Schauen Sie doch nur, wie wenig hier los ist", sagt der Mann, der an seinem Stand Limonaden, Chips und Kautabak verkauft. An diesem Morgen habe er weniger als ein Viertel seines üblichen Umsatzes gemacht: "Natürlich bereitet mir das Kopfschmerzen".
Unter der indischen Internetgemeinde, die ansonsten für ihre hitzigen Kommentare berüchtigt ist, wurde die Entscheidung Modis relativ einstimmig positiv aufgenommen. Auf der Titelseite der landesweiten Tageszeitung "Hindustan Times" hat ein E-Commerce Unternehmen eine ganzseitige Anzeige geschaltet, auf der das Konterfei des indischen Premierministers zu sehen ist. "Glückwunsch zu der mutigsten Entscheidung in der Finanzgeschichte Indiens", steht darunter zu lesen.
Kurzfristig Kaufkraft eingeschränkt
Tatsächlich hat Bargeld für die indische Wirtschaft noch einen extrem hohen Stellenwert. In einerStudie von Google India und der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) vom Juli 2016 hieß es, dass rund 78 Prozent aller Finanztransaktionen in Indien mit Bargeld durchgeführt werden. Gleichzeitig macht dies die Wirtschaft besonders anfällig für die grassierende Korruption im Land. Zudem habe die indische Wirtschaft laut Schätzung der Washingtoner Denkfabrik Global Financial Integrity allein von 2001 bis 2011 umgerechnet mehr als 300 Milliarden Euro durch illegale Kapitalabwanderung verloren.
Burkhard Wiegert berät seit 15 Jahren deutsche Unternehmen, die in Indien Fuß fassen wollen. Der Finanzexperte der Bochumer Beratungsgesellschaft Wamser und Batra glaubt, dass die Demonetarisierung von 500- und 1000-Rupien-Noten kurzfristig negativ auf das Wirtschaftswachstum Indiens auswirken könne: "Die Konsumentenkaufkraft ist wegen des fehlenden Bargelds kurzfristig eingeschränkt."
Firat Unlu, Indien-Experte des englischen Informationsdienstes "Economist Intelligence Unit", glaubt, dass die indische Regierung längerfristig mit höheren Steuereinnahmen rechnen könne, da der Anteil illegaler Schattenwirtschaft aufgrund der Nichtverfügbarkeit größerer Scheine sinken würde. Zudem würde die Maßnahme auch die Chancen der regierenden hindunationalistischen Partei BJP um Premierminister Modi für die anstehenden Wahlen im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh sowie im Grenzbundesstaat Punjab erhöhen. "Die BJP hat den Kampf gegen Korruption für den Wähler sichtbar gemacht", so Unlu.