Christoph Ransmayr: "Atlas eines ängstliches Mannes"
9. Oktober 2018Der Österreicher Ransmayr schrieb seinen ersten Roman über die Arktis-Expedition eines ungarisch-österreichischen Expeditionsteams im 19. Jahrhundert: "Die Schrecken des Eises und der Finsternis". Sein Buch "Die letzte Welt" wandte sich 1988 dem Leben Ovids zu, ein Text, der Zeiten und Orte geradezu traumwandlerisch vermischte.
70 Weltreisen, 70 menschliche Erkundungen
"Atlas eines ängstlichen Mannes" von 2012 besteht aus 70 Episoden, in denen sich der Autor der Orte erinnert, die er in den vergangenen Jahrzehnten für sich entdeckt hat. Es sind keine Reisebeschreibungen im üblichen Sinne, kein touristischer Exotismus wird hier betrieben – wie die poetische Begegnung mit der "Riesin" zeigt, einem Wal in der Dominikanischen Karibik:
"Die Riesin sah mich an, nein: streifte mich mit ihrem Blick und änderte dann ihren Kurs um einen Hauch, gerade so viel, dass wir einander nicht berührten. Aber obwohl sie mir mit dieser Andeutung einer Seitwärtsbewegung auswich und damit mein Dasein immerhin wahrnahm und anerkannte, glaubte ich in ihrem Blick eine so abgrundtiefe Gleichgültigkeit zu sehen - vergleichbar der eines Berges gegenüber dem, der ihn besteigt, der des Himmels gegenüber dem, der ihn durchfliegt -, dass mich ein Gefühl überkam, als müsste ich mich unter diesen Augen ohne den geringsten Rest auflösen, müsste unter diesen Augen verschwinden, so, als hätte ich nie gelebt."
Ob in der Karibik oder in Laos, im brasilianischen Tropenwald, in der nordamerikanischer Einsamkeit, in Russland oder auch in seiner österreichischen Heimat – es geht Ransmayr um mehr als die Beschreibung von Natur und Mensch. Es ist eine seltsam zeitenthobene Prosa, die gleichzeitig den Atem der Geschichte spüren lässt wie die Skurrilitäten des Alltags aufzeichnet. "Ich sah…" - mit dieser Formel beginnt jeder der 70 Texte.
Auf der Suche nach Erkenntnis
Die Texte handelten "ausschließlich von Menschen, denen ich begegnet bin, Menschen, die mir geholfen haben, die mich behütet, bedroht, gerettet oder geliebt haben", so Ransmayr in seinem kurzen Vorwort. Oder eben Tieren, wie die Begegnung mit dem Wal in der Karibik eindrucksvoll belegt.
Ransmayr ist auf der Suche nach dem Wesen der Dinge. Vor allem aber auf der Suche nach den Eigenarten der Menschen an dem Ort, an dem sie leben. Wie fühlen diese Menschen in anderen, uns so fernen Kulturen? Wie gehen sie um mit Stille und der Ödnis der Natur, wie stellen sie sich den Härten des Lebens? Ransmayr fragt und kommt stets zu Antworten, die ein letztes Rätsel übrig behalten.
Es sind keine Antworten, die sich in Reisemagazinen oder in traditioneller Reiseliteratur finden würden. Man merkt den Texten an, dass nicht ausschließlich die Erfahrung der Reise zum Ausgangspunkt der Prosa wurde. "Oft waren meine Reiseziele auch durch die Lektüre bestimmt, etwa durch Stevenson und Melville", sagte der Schriftsteller in einem Interview über seine Motivation zu schreiben.
Auf den Spuren von Herman Melvilles "Moby Dick"
Käpt'n Ahab in Herman Melvilles "Moby Dick", halb irre, von Wahnsinn getrieben, auf der Suche nach dem weißen Wal. Ahab war kein schnöder Walfänger, sondern ein an der Welt Verzweifelnder, der versuchte zu ergründen, was ihn im Inneren zusammenhält. Ransmayr ist ein später Nachfolger Melvilles. Auch er ist in fernen Gegenden auf der Suche nach dem weißen Wal der Erkenntnis.
Christoph Ransmayr: "Atlas eines ängstlichen Mannes" (2012), Fischer Verlag
Der 1954 in Wels/Oberösterreich geborene Autor machte sich in den 1980er Jahren mit Büchern wie "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" und "Letzte Welt" einen Namen. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller begibt sich oft auf Reisen in alle Teile der Erde und verarbeitet diese Erfahrungen in seinen Texten, die so oft literarischen Entdeckungsreisen gleichen.