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"Die bulgarische Grenze war brandgefährlich"

11. April 2019

Bis zum Mauerfall haben mindestens 2000 DDR-Bürger versucht, über Bulgarien in den Westen zu fliehen. Die meisten wurden gefasst - einige davon getötet. Historiker Christopher Nehring im DW-Interview.

Christopher Nehring, Historiker, Berlin (©Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)
Bild: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de

Betonmauern, Gräben, Wachhunde und Selbstschussanlagen: Eine 1400 km lange Todeszone bildete die innerdeutsche Grenze. Sie hinderte bis 1989 die Menschen gewaltsam daran, aus der DDR zu fliehen. Viele hegten die Hoffnung, über andere Länder entlang des Eisernen Vorhangs zu flüchten. Wie etwa über Bulgarien. Ein Urlaubsparadies für einige, das Tor zur Freiheit für andere. Doch was wenige wussten: Die Grenze zu Bulgarien wurde ebenfalls streng gesichert - auch mit dem Einsatz der Waffe.

Der Historiker Christopher Nehring hat zwischen 2011 und 2012 in bulgarischen Archiven geforscht und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Leiter im Deutschen Spionagemuseum in Berlin. Wir haben mit ihm über die Zusammenarbeit zwischen der deutschen und bulgarischen Staatssicherheit und die Tötungen an der Grenze gesprochen.

Deutsche Welle: Wieso ist es so schwer, die genauen Zahlen der DDR-Bürger zu bestimmen, die bei Fluchtversuchen über Bulgarien getötet wurden?

Christopher Nehring: Es gibt kein Zentralverzeichnis, das gab es vermutlich schon damals nicht. Die Akten sind sehr verstreut. Man muss lange suchen - und es könnten immer wieder neue Fälle auftauchen. Außerdem wurde jahrelang versucht, so wenig wie möglich Akten über Tötungen zu produzieren. Das heißt gerade in den 1950er und 1960er Jahren wurden nur wenige Akten angelegt oder sie wurden vor 1990 vernichtet.

Nach der Wende hatten die Verantwortlichen im Verteidigungsministerium und im Innenministerium kein großes Interesse daran, die Fälle zu prüfen und zu verzeichnen. Die verlässlichsten Zahlen sind auch nur grobe Schätzungen, die der bulgarische Innenminister und der Verteidigungsminister 1992 verkündet haben. Sie sprachen von 339 Tötungen bei Fluchtversuchen in den Jahren von 1946 bis 1985. Insgesamt fehlen bis zu Wende fünf Jahre komplett.

Wie wurden die Tötungen in den Akten begründet?

In allen Akten, die ich gefunden habe, bei denen es sich um einen Todesfall handelt, wird der Tathergang sehr standardisiert dargestellt. Es gibt meistens nur zwei Sätze, die gezielt so formuliert sind, dass sie in das legale Schema passten. Das Gesetz erlaubte schon in den 1950ern Jahren den Gebrauch von Schusswaffen wenn jemand versucht hat, die Grenze zu überqueren und Widerstand geleistet hat.

Und sie finden dieses Argument in jeder einzelnen Akte. Die Militärstaatsanwaltschaft wurde zwar nach einer Tötung an der Grenze aktiv, hat aber auf Grundlage des Gesetzes die Verfahren gegen die Todesschützen eingestellt und gesagt, es sei rechtmäßig gehandelt worden. In den Akten steht dann immer, der Täter habe Widerstand geleistet und er habe sich nicht ergeben - und wurde deswegen getötet.

Obwohl es so gefährlich war, kursierte in der DDR lange Zeit das Gerücht, die (Ostblock-) Grenze in Bulgarien sei leichter zu überwinden als die innerdeutsche Grenze. Woher kommt das?

Das habe ich mich auch immer gefragt und wenn ich öffentlich darüber gesprochen habe, erzählten mir Bürger, die zu jener Zeit in den Urlaub nach Bulgarien gereist sind, dass es Mundpropaganda war. Bis heute kann man schwer sagen, woher das Gerücht kam. Anfang der 1960er Jahre ist in der westdeutschen Presse ein Artikel über die bulgarische Grenze erschienen, in dem sich die Information als unwahr herausgestellt hat: Es war sehr fatal zu glauben, die bulgarische Grenze sei leicht zu überqueren. Sie war schon vor dem Bau der Berliner Mauer extrem hart gesichert.

Den genauen Ursprung des Gerüchts konnte ich nicht herausfinden. Wahrscheinlich entstand durch die guten Erfahrungen mit der einheimischen Bevölkerung bei Urlaubsaufenthalten der Eindruck, dass es in Bulgarien freundlicher und lascher zuging als in der DDR. Hinzu kommt: Die Landschaft an der bulgarischen Grenze war dünn besiedelt. Man hat vermutet, man könne leicht rüber. Ein gefährlicher Irrtum. Manchmal auch ein tödlicher Irrtum.

Was wussten die ostdeutschen Behörden und wie verlief generell die Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den bulgarischen Staatssicherheitsdiensten?

Die Beziehungen reichen schon bis in den Anfang der 1950er Jahre zurück. Das Thema Flucht ist insofern sehr interessant, als dass es für die DDR erst im Sommer 1962 zum Thema wurde. Die bulgarische Staatssicherheit hat aber bereits 1958 die Stasi gebeten, operative Mitarbeiter nach Bulgarien zu schicken. Die Anfrage wiederholte Bulgarien erneut im Jahr 1961 - sogar vor dem Mauerbau im April.

Aber erst im darauffolgenden Jahr, nachdem die Fluchtversuche via Bulgarien so stark zugenommen hatten, haben die deutschen Behörden reagiert. Es dauerte bis Ende der 1960er, bis sich die Zusammenarbeit eingespielt hatte und wirksamer wurde. Ab Ende der 1960er Jahre nimmt auch die Zahl der erfolgreichen Fluchten über Bulgarien ziemlich stark ab.

Der erste aktenkundige Todesfall eines DDR-Bürgers an der bulgarischen Grenze datiert aus dem Jahr 1965, der letzte aus dem Jahr 1989 - nur wenige Monate vor dem Mauerfall wurde der 19-jährige Michael Weber erschossen. Was ist mit den Leichen der getöteten Menschen passiert?

Bis Mitte der 1970er Jahre wurden die Leichen von den Grenztruppen direkt vor Ort in Bulgarien begraben. Es ging nur eine kurze Meldung in die DDR. Mitte der 1970er Jahre, als die Bundesrepublik und die DDR zum ersten Mal Verträge abgeschlossen haben und der internationale Druck auf die DDR größer wurde, ab da haben die bulgarischen Behörden angefangen, jede Leiche aus dem Grenzgebiet nach Sofia zu transportieren. Dann musste die DDR-Botschaft entscheiden, was mit der Leiche passiert: ob die Angehörigen sie sehen dürfen und ob sie überführt wird oder nicht.

Wenn ich mit ehemaligen DDR-Flüchtlingen spreche, ist immer wieder die Rede von horrenden Summen, die die bulgarischen Grenzer für jeden Gefangenen bekommen hätten. Manche sprechen von 1000 Westmark, zu jener Zeit ein extrem hoher Betrag. Stimmt das?

Das wäre so viel wie der bulgarische Innenminister damals offiziell verdient hat. Wenn den Wehrdienstsoldaten an der Grenze so viel Geld in die Hand gedrückt worden wäre, dann hätten sie alles erschossen, was sich irgendwie bewegte.

Die bulgarische Staatssicherheit hat durchaus mit Belohnung gearbeitet, aber auch mit Strafe. Für erfolgreich verhinderte Fluchten - egal ob mit tödlichen Schüssen oder indem sich jemand ergeben hat - haben die Soldaten Sonderurlaub bekommen und wenn sie da unten an der Grenze Wehrdienst leisten und Sonderurlaub bekommen, dann ist es schon Anreiz genug. Manchmal wurden Sachgeschenke verteilt. Andererseits: Wenn sie mal daneben schossen, dann gab es das Gegenteil von Sonderurlaub - dann kriegten sie Strafdienst.

Heute, fast 30 Jahre nach dem Fall der kommunistischen Regime, tut sich Bulgarien sehr schwer mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Wieso?

Das ist eine sehr komplexe Frage, weil so viele Bereiche betroffen sind. Bulgarien erlebte eine andere Transformation als Deutschland. Das Interesse an der Geschichtsaufarbeitung fehlte in der politischen Elite Bulgariens. Zum größten Teil lag es daran, dass viele Vertreter des alten Systems in ununterbrochener Kontinuität nach 1990 aktiv waren.

Andererseits stellt sich die Frage: Was wäre überhaupt möglich gewesen? Wo hätte dieser 100-prozentige Wechsel herkommen sollen - wie in der DDR, wo die Bundesrepublik danebenstand und Institutionen und Personal bereitstellte. Das war in keinem anderen Land möglich.

Der EU-Beitritt war einer der größten Faktoren der Veränderung: In den letzten zehn Jahren hat sich das deutlich verbessert, vor allem als die Comdos (Anm. d. Red.: Kommission zur Erschließung der Dokumente und zur Klärung der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und den Aufklärungsdiensten der Bulgarischen Volksarmee) in Sofia ihre Arbeit aufnahm.

Das Interview führte Rayna Breuer. 

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