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Politik

Cocolitzli - eine schlimmere Seuche als Corona

2. Mai 2020

Lateinamerika hat schon vor dem Coronavirus schreckliche Erfahrungen mit Seuchen gemacht. Vor knapp 500 Jahren raffte eine mysteriöse Epidemie Millionen Menschen der indigenen Urbevölkerung in Mexiko und Guatemala hin.

Coronavirus Crisis - Mexico City
Corona in Mexiko: Wer das Haus verlässt, muss eine Maske tragen Bild: picture-alliance/dpa/abaca/R. Castelan

Die Menschen litten nicht an starkem Husten, sondern bluteten kräftig aus Nase und Mund. Der verheerenden Seuche fielen 80 Prozent der Bevölkerung zum Opfer. Ihr Ursprung war nicht weit entfernt im Reich der Mitte, sondern mitten in Europa.

Die Seuche Cocolitzli wütete ein halbes Jahrtausend vor Corona in Mexiko und war ein tödliches Mitbringsel der spanischen Eroberer. Sie war eine der tödlichsten Epidemien der Menschheitsgeschichte. 15 Millionen widerstandslose Ureinwohner in Mexiko und Guatemala starben von 1545 bis 1550 und von 1576 bis 1578 einen qualvollen Tod. Es sollte mehrere Jahrhunderte dauern, bis die Zahl der Einwohner den Stand vor Cocolitzli  – im aztekischen Náhuatl das Wort für Krankheit – erreichte.

"Die spanischen Eroberer brachten verschiedene Seuchenkrankheiten auf den amerikanischen Kontinent, als erstes die Pocken, später auch andere europäische Seuchen wie Masern oder Grippe", sagt Antje Gunsenheimer, Akademische Rätin für Altamerikanistik und Ethnologie an der Universität Bonn.

Hernán Cortés und die Eroberung Mexikos: Die schlimmsten Waffen der spanischen Eroberer waren nicht Schwerter, sondern KrankheitserregerBild: picture-alliance/akg-images

Ihre wirkungsvollsten Waffen waren also nicht etwa Schwerter, Gewehre oder Kanonen, sondern die Krankheitserreger, die sie in die Neue Welt einschleppten.

Heute wäre die typhusähnliche Erkrankung mit Antibiotika heilbar, damals dauerte der aussichtslose Kampf gegen den Tod gerade einmal drei bis vier Tage. "Der Schock von Cocolitzli ist in das kollektive Gedächtnis der Indigenen eingegangen", erklärt Gunsenheimer.

Flucht in die Religion

Die Azteken hätten für die aktuellen Corona-Hygieneregeln wie ständiges und gründliches Händewaschen wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln übrig gehabt, vermutet die Altamerikanistin. "Die Gesellschaft hat sehr viel Wert auf Hygiene gelegt, die Menschen haben sich mehrmals am Tag gewaschen und gebadet."

Antje Gunsenheimer, Akademische Rätin für Altamerikanistik und Ethnologie an der Universität Bonn: "Die Azteken haben sehr viel Wert auf Hygiene gelegt"Bild: privat

Doch auch die Hygiene war durch die spanischen Eroberer erschwert worden. "Hernán Cortés hat bei der Belagerung von Mexiko-Stadt die Wasserversorgung zerstört, einfachste Desinfektionsmaßnahmen waren deshalb nicht mehr möglich."

Viele Ureinwohner suchten in ihrer Verzweiflung ihr Heil in der Religion. "Die missionierenden Orden versprachen den Ureinwohnern, dass sie als Christen nicht von den Krankheiten befallen werden könnten", sagt Antje Gunsenheimer. Konsequenz: Sie siedelten um, lebten in den neuen Dörfern noch enger zusammen, und waren damit noch leichtere Beute für die Erreger.

Die Parallelen zu Corona sind knapp 500 Jahre später erschreckend. Noch heute, im 21.Jahrhundert, nennen evangelikale Pastoren in Brasilien Corona eine "Strategie Satans", und predigen, dass der Glauben die beste Medizin gegen das Coronavirus sei.

Im Massengrab von Teposcolula-Yucundaa fanden Forscher in menschlichen Überresten das Erbgut eines mit dem Typhus-Erreger verwandten Salmonellen-BakteriumsBild: Christina Warinner

Sensationeller Fund

Der Mann, der wie nur die wenigsten sonst auf der Welt das Cocolitzli-Virus kennt, forscht knapp 10.000 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Alexander Herbig ist Archäogenetiker, was bedeutet, dass er die Evolution menschlicher Krankheitserreger untersucht.

Kann man Cocolitzli mit Corona vergleichen? Herbig verneint: "Bei Cocolitzli spielten mehrere verschiedene Krankheitserreger eine Rolle, betroffen war nicht die ganze Welt, sondern nur einige Regionen in Lateinamerika, und die Sterblichkeitsrate war sehr hoch."

Alexander Herbig vom Max-Planck-Institut: "Mit dem Vorläufer des Cocolitzli-Erregers infizierten sich bereits tausende Jahre zuvor Menschen in Eurasien"Bild: Privat

Vor zwei Jahren sorgte ein internationales Forscherteam um Herbig für eine weltweite Sensation: Sie entdeckten die Ursache der mexikanischen Seuche."Es ist uns gelungen, das Erbgut eines mit dem Typhus-Erreger verwandten Salmonellen-Bakteriums in mehreren Individuen zu identifizieren, das als Paratyphus C bezeichnet wird", erklärt Herbig stolz.

Die Wissenschaftler untersuchten dabei die sterblichen Überreste von 29 Cocolitzli-Opfern und verglichen die DNA mit großen Datenbanken aller bekannten Krankheitserreger. Alexander Herbig vermutet, dass zusätzlich auch noch andere Erreger eine Rolle gespielt haben könnten.

Immer neue Krankheitserreger

Neben allen Unterschieden zu Corona – COVID-19 wird durch Viren übertragen und Paratyphus von Bakterien verursacht – verweist der Forscher aber auch auf Parallelen: "Bei beiden Erkrankungen gibt es das Phänomen, dass eine betroffene Person auch ohne das Auftreten von Symptomen andere Menschen infizieren kann." Dies sei natürlich eine sehr tückische Eigenschaft, da sich die Gefahr dann nicht so leicht erkennen ließe.

Forscher des Max-Plack-Instituts für Menschheitsgeschichte entdeckten den Erreger der Cocolitzli- Seuche Bild: Max Planck Institut für Menschheitsgeschichte/Elizabeth Nelson

Noch heute sind Typhus- und die schwächeren Parathypus-Erkrankungen gefährliche Infektionskrankheiten, die längst nicht eingedämmt sind. Weltweit erkranken daran jährlich laut Weltgesundheitsorganisation mehr als 30 Millionen Menschen, bekommen hohes Fieber, erleiden schwere Magen-Darm-Erkrankungen und dehydrieren. Die Zahl der jährlichen Todesopfer schätzt die WHO auf 200.000.

Cocolitzli vor 500 Jahren, Corona heute – Alexander Herbig geht davon aus, dass sich die Menschheit auch in Zukunft auf neuartige Krankheitserreger einstellen muss; und verweist auf die steigende Zahl antibiotikaresistenter Bakterien: "Dies steht zwar nicht mit Viruserkrankungen wie Corona im Zusammenhang, aber die Entwicklung ist ebenfalls sehr besorgniserregend."