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Politik

Colonia Dignidad - die würdelose Kolonie

25. März 2020

43 Jahre lebte Esther Müller in der Colonia Dignidad in Chile. Eine Geschichte über das Leben in der Hölle auf Erden und einen sadistischen und pädophilen Sektenführer.

Colonia Dignidad
Bild: Archivo Villa Baviera

An ihren fünften Geburtstag kann sich Esther Müller noch erinnern, als ob er gestern gewesen wäre. Schließlich soll es der Beginn von einem großen Abenteuer sein, das junge Mädchen feiert diesen besonderen Tag auf einem Schiff von Genua Richtung Chile. Denn was wäre für die Familie schon die Alternative gewesen? 1962 erreicht der Kalte Krieg mit der Kubakrise schließlich einen neuen Höhepunkt. Esther Müllers Eltern fürchten wie viele andere einen Dritten Weltkrieg.

Und dann kommt dieser charismatische Laienprediger Paul Schäfer, warnt Müllers Eltern vor einer sowjetischen Invasion apokalyptischem Ausmaßes und verspricht ihnen ein "urchristliches Leben im Gelobten Land" - 12.000 Kilometer entfernt, in Chile.

"Da können wir ganz neu anfangen", lockt Schäfer die 200 Anhänger seiner "Private Sociale Mission e.V." in Siegburg, "in Chile war ein großes Erdbeben, viele Kinder sind deswegen Waisen und können unsere Hilfe gut gebrauchen." Dass er damals schon wegen der Vergewaltigung von zwei Jungen per Haftbefehl gesucht wurde, verschweigt Schäfer, der kurze Zeit später untertaucht und sich schon auf dem Weg nach Chile macht.

"Junge Menschen dürfen sich nicht von Sekten den Kopf verdrehen lassen" - Esther Müller lebt seit 2005 in DeutschlandBild: Privat

Noch heute weiß Müller jedes Detail dieser Reise: wie sie schon in Siegburg von ihren Eltern getrennt wird, wie es mit dem Zug, "vollgepackt mit Kindern" und unter der Aufsicht von zwei Erwachsenen, Richtung Genua geht, an einen der riesigen Schäferhunde Schäfers, der schon auf dem Schiff dabei ist und die "einzigartig schöne, vier Wochen lange Reise". Es soll für lange Zeit die letzte schöne Erinnerung Müllers bleiben.

Die Ankunft in Chile

"Als wir in Valparaíso in Chile angekommen sind, stand da schon so ein alter Opel Blitz mit einer Plane drauf und hinten auf der Ladefläche standen so Holzbänke", erinnert sich Esther Müller an ihre Ankunft in Südamerika. Die Kinder sitzen zusammengepfercht auf den Bänken, durch die Nacht geht es Hunderte Kilometer Richtung Süden, nach Parral. Dort hat Schäfer eine heruntergewirtschaftete Finca erworben. Das Geld hat er ausgerechnet von der Bundeswehr, die ihm für das Kinderheim in Siegburg stolze 900.000 Mark in die Hand drückt.

Einige Holzhütten stehen schon - auch Esther Müllers Vater hat daran mitgewerkelt, er ist Schäfer schon Monate zuvor mit dem Flugzeug gefolgt. "Wir sind dann mit 21 Kindern in einer dieser Hütten gebracht worden. Matratzen hatten wir nicht, aber wir hatten Säcke mit einer kleinen Öffnung, die wir mit Stroh aufgefüllt haben und darauf haben wir dann alle auf dem Boden geschlafen", erinnert sich Müller.

Am Anfang durften Mädchen und Jungen in der Colonia Dignidad noch zusammen essenBild: picture-alliance /dpa/Villa Baviera

Schon mit fünf Jahren wird ihr klar, dass das versprochene Paradies himmelweit entfernt ist. Kinder und Eltern werden rigoros getrennt, die Kinder werden von kinderlosen, sogenannten "Tanten", betreut. "Ich bin immer um das Haus gelaufen, in dem meine Mutter war, und habe geschrien: 'Mutti, komm' raus.' Aber sie kam nicht", erklärt Müller, "meinen Vater habe ich nur jedes halbe Jahr gesehen, weil er 200 Kilometer entfernt arbeiten musste. Ich habe meine Eltern so schrecklich vermisst und wollte nur zurück nach Hause, nach Deutschland."

Spielzeug gibt es nicht, Esther Müller vertreibt sich die Zeit mit den anderen Kindern am nahe gelegenen Fluss. Die Kinder müssen sich die Schuhe ausziehen, um diese nicht abzunutzen und die ganze Zeit barfuß laufen. "Ich weiß noch heute, wie wir uns alle auf den brennend heißen Steinen die Fußsohlen verbrannt haben." Jede Mahlzeit besteht aus gerade mal zwei Tellern Suppe, Brot gibt es nicht.

Die "Tanten" begegnen den Kindern dagegen mit Eiseskälte. Wer nicht spurt, bekommt dies sofort zu spüren. "Die hatten nie etwas mit Kindererziehung gelernt und haben sofort zugeschlagen", sagt Müller. Sich anbahnende Freundschaften zwischen den Kindern werden strikt unterbunden. Schon die ersten Tage, Wochen und Monate in der "Kolonie der Würde" sind ein Vorgeschmack auf das, was da in den nächsten Jahren noch kommen wird. "Wir sind nur mit Schlägen und ohne Liebe groß geworden", so Müller.

Das Leben in der Colonia Dignidad

Esther Müller und die anderen vergessen schnell, was Zeit ist. Was Erinnerungen sind. Was besondere Momente sind. Es gibt keine Uhren in der Colonia Dignidad. Tagebücher sind verboten, Zeitungen anzufassen sei giftig, wird ihnen eingetrichtert. Es werden auch keine Geburtstage gefeiert. Und Fotos werden nur alle Jahre mit den Eltern geschossen, um der Außenwelt und den Verwandten in Deutschland ein heiles Leben vorzugaukeln. Von Esther Müller allein als Kind oder Jugendliche existiert kein einziges Bild.

Schon mit sechs Jahren muss sie anfangen, auf dem Feld zu arbeiten. Das Land urbar machen. Schubkarren ziehen. Von morgens bis abends, jeden Tag, oft auch sonntags. Und immer wieder Suppe, bis irgendwann zumindest Haferflocken und Brot dazukommen. Jedes Kind muss ein Musikinstrument lernen – wenn den wenigen Besuchern gezeigt werden soll, welche fantastische Förderung die jungen Menschen doch in der Kolonie genießen.

Singen für den Schein nach außen - der Chor der Colonia DignidadBild: Archivo Villa Baviera

Junge Frauen wie Esther Müller sind für Paul Schäfer dabei nur schmückendes Beiwerk. Als Krankenschwestern im allseits anerkannten Krankenhaus, das kostenlose Behandlungen für die in Armut lebende Landbevölkerung anbietet, fungieren sie als die perfekte Tarnung für die Monströsität hinter den Kulissen, wenn Kinder mit Elektroschocks und Psychopharmaka gefügig gemacht werden und sich Schäfer jeden Abend Jungen auf sein Zimmer holt und sich an ihnen vergeht – schätzungsweise 200 in den ganzen Jahren.

"Von uns Frauen wusste Schäfer überhaupt nichts, er hat mich die ganzen 43 Jahre nicht einmal bei meinem Namen genannt. Ihn haben nur die Jungen interessiert", sagt Müller. Die Frauen dürfen auch keine T-Shirts ohne Ärmel tragen, Beziehungen in der Kolonie sind strikt untersagt. Für Paul Schäfer sind die weiblichen Mitglieder der Kolonie nur "Langhaarige, blöde Hühner und blöde Gänse".

Paul Schäfer

Eines dunklen Abends, Esther Müller ist gerade einmal zwölf Jahre alt, liegt das junge Mädchen im Bett, als ihr einige Gefolgsleute Schäfers die Decke vom Körper reißen und sie zum Sektenführer bringen. Müller zittert am ganzen Körper, aus Angst und weil sie nur ein dünnes Sommerkleid trägt.

Schäfer, der neben frommer Besitzlosigkeit vor allem sexuelle Askese von seinen Anhängern einfordert, erwartet sie schon mit einem Stock. "Beichte, was hast Du mit der Puppe gemacht?" schreit sie Schäfer an und drischt immer wieder auf das junge Mädchen ein. "Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hatte von Sexualität ja keinen blassen Schimmer", erinnert sich Müller, die tagelang nicht mehr sitzen kann.

Sektenführer Paul Schäfer bei seiner Verhaftung in Buenos Aires am 10.März 2005Bild: picture-alliance/AP Photo/N. Pisarenko

Es ist die Zeit, in der Schäfer die Schraube seiner Gewaltherrschaft in der Kolonie noch weiter zudreht. Redeverbot für alle, Fronarbeit auf dem Feld bei über 30 Grad, und dabei kein Essen und nur ein Glas Wasser pro Tag. "Ich bin fast umgekommen vor Durst", denkt Müller zurück, "und wir alle wussten nicht, warum das alles passiert."

Die Jungen und Mädchen werden getrennt, gemeinsamer Schulunterricht findet nicht mehr statt, das Kinderhaus nach der Arbeit zugesperrt. Paul Schäfer hat jetzt noch leichteres Spiel, die Jungen zu missbrauchen, aber Esther Müller und die anderen Mädchen sind keineswegs vor ihm sicher.

Immer wieder pickt er sich eine nach der anderen raus, verdrischt die jungen Frauen bei den "Sündenbekenntnissen", wie Schäfer es nennt, und verweigert ihnen danach Essen und Trinken. "Wenn ich abends allein im Bett lag, habe ich nur noch innerlich gebetet und mir einen Kuchen vorgestellt. Ich wollte nur noch einmal in meinem Leben satt werden", sagt Müller.

Es ist ihr Glaube, der Esther Müller am Ende hilft: "Ich habe Gott gesagt, gib' mir die Kraft, ihm Kontra zu geben. Steh' mir bei. Entweder schlägt er mich tot oder er lässt mich endlich in Ruhe, aber auf jeden Fall ist es dann vorbei." Als Schäfer sie wieder in sein berüchtigtes Folterzimmer bringen lässt, bricht es aus Müller heraus: "Ich habe keine Sünde mehr in mir. Lass mich endlich in Ruhe oder schlag' mich tot. Aber ich weiß, dass ich den Himmel komme und nicht in die Hölle."

Opfer der Colonia Dignidad fordern Hilfe von Deutschland

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Und tatsächlich: Widerworte ist der Sektenführer nicht gewohnt. Schäfer schreckt zurück und bekommt zunächst kein Wort mehr heraus. "Leise, leise, es muss ja keiner mithören", flüstert er Esther Müller zu und verlässt dann schnurstracks den Raum. Es ist das letzte Mal, dass Schäfer sich ihr genähert hat, fortan lässt er Müller in Ruhe.

Ein großer Triumph für ein kleines, verängstigtes Mädchen, das ihn entsprechend auskostet. "Ich habe danach Kartoffeln und Gemüse in mich hineingestopft, bis mir übel wurde. Dann bin ich auf Toilette gegangen, habe alles ausgebrochen, und bin danach wieder zum Tisch und habe weiter gegessen", erinnert sich Müller. Wenigstens wird sie danach in der Kolonie nie mehr an Hunger leiden.

Ist sie heute noch wütend auf Paul Schäfer? "Nein, für mich war er zwar von Anfang an ein brutaler und krimineller Machthaber, aber ich habe eher Mitleid mit ihm", sagt Müller. Als Schäfer am 24. April 2010 im Alter von 88 Jahren im Gefängniskrankenhaus von Santiago einem Herzleiden erliegt, denkt sie nur: "Endlich, jetzt sind wir wirklich frei. Bis dahin hatte ich immer den Eindruck, dass er von weitem bei der Kolonie bestimmt, was gemacht werden soll und was nicht."

 

Esther Müller spricht auch in der vierteiligen Dokumentation von Annette Baumeister und Wilfried Huismann "Colonia Dignidad – Aus dem Innern einer deutschen Sekte" (ARD und ARTE) über ihr Leben in Chile. Die beiden Regisseure konnten erstmals auf 400 Stunden Filmmaterial, von den Bewohnern selbst gedreht, zurückgreifen, viele Bewohner geben dort zum ersten Mal ein Interview.

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