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Comics mit Anspruch

4. September 2011

Graphic Novel - Das ist mehr als ein Comic. Es ist ein gezeichneter Roman. Den gibt es schon lange, aber selten war er so erfolgreich wie heute. Comic-Spezialist Andreas Platthaus zur Geschichte der Graphic Novel.

'Blei in den Knochen' von Jacques Tardi (Foto: Verlag Edition Moderne)
"Blei in den Knochen" von Jacques TardiBild: Edition Moderne

DW-WORLD.DE: Andreas Platthaus, was unterscheidet einen klassischen Comic von einer Graphic Novel?

Andreas Platthaus: Sehr wenig, außer dass man als Graphic Novel heutzutage Geschichten bezeichnet, die zwei Aspekte aufweisen. Zum einen können sie in einem Format erzählt werden, das nicht festgelegt ist. Sprich, in einem Format, das sich nicht am klassischen Heft- oder Albenformaten orientiert. Das ist sozusagen die Seitengröße, die eine Rolle spielt bei der Bestimmung dessen, was eine Graphic Novel ist. Zum zweiten ist der Umfang nicht festgelegt, das heißt, es spielt keine Rolle, ob eine Graphic Novel 20 oder 500 Seiten hat. Und so ergibt sich in gewisser Weise die Parallele zum Roman, der ja im Begriff Novel drin steckt. Aber wie Sie bereits sehen, ist das eine rein technische Unterscheidung. Inhaltlich hat sich mit Graphic Novel eigentlich nichts geändert.

Gibt es so etwas wie ein Geburtsjahr der Graphic Novel oder ist das eine langsame Entwicklung zu mehr Detailreichtum und anspruchsvollerem Inhalt?

Wenn man den Begriff nimmt, dann gibt es ein Geburtsdatum. Man kann es auch sehr genau festlegen auf 1977, als Will Eisner zum ersten Mal diesen Begriff ganz bewusst eingesetzt hat. Das war in dem berühmten Comic "Ein Vertrag mit Gott", den Will Eisner 1977 gezeichnet hat. Und damit wollte er sich ein bisschen abgrenzen vom normalen Comicbuch, um eben zu sagen, ich erhebe hier einen literarischen Anspruch. Bitte betrachtet dieses Werk auch entsprechend so. Inhaltlich betrachtet hat er aber jetzt so wahnsinnig Neues nicht gemacht. Das war eine Art autobiographische Erzählung über Will Eisners eigene Jugendjahre, in den dreißiger Jahren in New York. Und das hat es vorher schon gegeben. Und es hat auch schon vorher Comics gegeben, die sich Hunderte von Seiten Platz genommen haben, um durchaus literarische Stoffe zu verarbeiten oder zu erzählen. Aber sie hatten eben noch nicht diesen singulären Begriff. Den hat wohl erst Eisner geprägt.

Und wann sind diese literarisch anmutenden Comics entstanden? Wie lange gibt es die schon?

Ich würde sagen, die gibt es, seit es Comics gibt. Also, wir müssen das Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ansetzen. Wenn Sie sich Comicserien ansehen wie "Little Nemo in Slumberland" beispielsweise, oder "Crazy Cat" oder von Lyonel Feininger "The Kin-der Kids". Das waren Serien, die waren sehr einfallsreich. Sie waren so klug in ihrem Spiel mit literarischen Mustern, nur alle natürlich fest gelegt auf bestimmte Erscheinungsrhythmen. Denn die erschienen immer sonntags in amerikanischen Zeitungen. Der Zeichner hatte eine Seite dafür zur Verfügung. Aber eine Zeitungsseite ist sehr viel Platz und den haben diese Leute damals unglaublich intelligent genutzt. Und die haben damit tatsächlich etwas geschafft, was seitdem für meinen Geschmack im Comic auch gar nicht wieder eingeholt worden ist. Eine unglaublich spannende Kombination zwischen geschriebenem Wort und gezeichnetem Bild. Und erst aus der Kombination heraus entsteht dann etwas, was für meinen Geschmack eben nur schwer als Roman zu bezeichnen ist. Und auch "gezeichneter Roman" wird der Sache nicht wirklich gerecht, weil damit immer noch der Fokus auf diesem literarischen Aspekt liegt. Comics sind etwas ganz Eigenes zwischen Literatur und Film und Bild.

Wie ist es denn seit 1977 der Graphic Novel ergangen? In den letzten Jahren scheint dieser Markt geradezu zu explodieren. Jede Menge Verlage entdecken dieses Genre.

Es hat sich auch sehr viel in dieser Zeit entwickelt. Wobei es tatsächlich damit zusammen hängt, dass dieser Begriff vor vier, fünf Jahren mit den vereinten Bemühungen der Comicverlage in Deutschland richtig etabliert worden ist. Und damit wurde das nachvollzogen, was in Amerika mehr schleichend passiert ist. Denn nachdem Will Eisner diesen Begriff in den 70er Jahren geprägt hatte, ist er gar nicht so häufig benutzt worden. Ein entscheidender Schritt dazwischen ist dann in den 80er Jahren Art Spiegelmans "Maus" gewesen. Damit sind Comics zum ersten Mal auch in die Bestsellerlisten vorgedrungen, was es vorher so noch nie gegeben hatte. Man hatte sie eben bis dahin nicht als gleichrangig mit Literatur betrachtet, wie es dann im Fall von Spiegelman passierte. Und da kam dann wieder die Diskussion über diesen Begriff der Graphic Novel auf. Spiegelman hat sich vehement dagegen gewehrt, weil er sagte, mit einem Roman hat mein Buch überhaupt nichts tun. Das ist ein Tatsachenbericht. Also der legte noch sehr viel Wert auf die ganz genaue Bestimmung dieses Begriffs. Aber das ist im Endeffekt dann auch in Amerika ein bisschen verloren gegangen. Man hat in den 90er Jahren diesen Begriff der Graphic Novel in gewisser Weise wieder entdeckt und häufiger verwendet, als es vorher der Fall war. Und in Deutschland, wie gesagt, hat man dann irgendwann gesehen, aha, in Amerika gibt es mittlerweile so einen richtigen Graphic Novel Boom. Der Begriff bedeutet den Lesern und den Käufern wirklich etwas. Und wir führen den jetzt wirklich völlig neu in Deutschland ein.

Das Gespräch führte Günther Birkenstock.
Redaktion: Gaby Schaaf

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