Corona-Aufarbeitung, aber ohne Untersuchungsausschuss
Veröffentlicht 8. Juni 2025Zuletzt aktualisiert 10. Juli 2025
Im März 2020 wurde die in Deutschland auch als Corona bezeichnete Infektionskrankheit Covid-19 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärt. Globale Lockdowns brachten das Leben weitgehend zum Erliegen: wirtschaftlich, sozial, kulturell. In Deutschland wurden die letzten Beschränkungen erst im April 2023 aufgehoben.
Nun, gut zwei weitere Jahre später, beginnt im Deutschen Bundestag die Aufarbeitung. Am Donnerstag hat das Parlament beschlossen, eine Enquête-Kommission einzusetzen. Wie unterschiedlich die Vorstellungen quer durch die Fraktionen sind, war schon bei der ersten Debatte zwei Wochen zuvor deutlich geworden.
"Wir waren ein starkes Parlament in der Corona-Zeit"
Der SPD-Abgeordnete Johannes Fechner widersprach dabei dem unter anderem von der Alternative für Deutschland (AfD) erhobenen Vorwurf, der Bundestag sei während der Pandemie zu wenig seiner Kontrollfunktion gegenüber der Regierung nachgekommen. "Wir waren ein starkes Parlament in der Corona-Zeit", entgegnete Fechner. "Und weil wir ein starkes Parlament sind, gehen wir jetzt auch mit der nötigen Selbstkritik daran, die Maßnahmen aufzuarbeiten."
Die Oppositionsfraktionen werfen dem früheren Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor, sich einer Aufklärung seiner Rolle bei der mutmaßlich stark überteuerten Beschaffung von Schutzmasken zu verweigern. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat dazu einen unter Verschluss gehaltenen Bericht erstellen lassen, der inzwischen von verschiedenen Medien veröffentlicht wurde.
AfD, Grüne und Linke fordern Untersuchungsausschuss
Johannes Wagner von den Grünen forderte deshalb schon Ende Juni - wie auch die AfD und die Linke - zusätzlich einen Corona-Untersuchungsausschuss, "der die Masken-Deals und die Machenschaften von Jens Spahn lückenlos aufklärt".
Zwar sind sich die drei Oppositionsfraktionen in der Bewertung der Masken-Affäre einig und die AfD hatte einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gestellt, aber sie wäre auf Unterstützung von Grünen und Linken angewiesen gewesen. Die aber lehnen jegliche Zusammenarbeit mit der teilweise rechtsextremen Partei ab. Das betrifft auch Abstimmungen im Parlament. Also wird es absehbar keinen Untersuchungsausschuss geben.
Die Enquête-Kommission hingegen kann nach der jetzt beginnenden Sommerpause des Parlaments im September loslegen. Das freut auch einen, der während der Pandemie als einer der führenden Virologen Deutschlands bekannt wurde: Hendrik Streeck. Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 hat er für die CDU in Bonn das Direktmandat gewonnen.
Der 47-Jährige sitzt im Gesundheitsausschuss, außerdem ist er Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen. Streeck blickt also aus verschiedenen Perspektiven auf Corona und die Folgen: wissenschaftlich, medizinisch und politisch. Die Aufarbeitung der Pandemie hält er für "zwingend notwendig". Sie sei die größte Krise nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, sagt er im Interview mit der Deutschen Welle.
Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit
Als Parlamentarier erhofft sich Streeck Antworten auf Fragen, die aus seiner Sicht bislang unterbelichtet sind. Zum Beispiel: Wie funktioniert die wissenschaftliche Beratung der Regierung in einer Krise wie der Corona-Pandemie? "Das ist ein Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit", weiß der Virologe aus eigener Erfahrung.
Außerdem wünscht er sich, dass die Enquête-Kommission einen kritischen Blick auf die Abstimmung zwischen den politischen Ebenen wirft. Während der Pandemie gab es die Ministerpräsidenten-Konferenz, in der die 16 deutschen Landesregierungen mit der Bundesregierung Maßnahmen bis hin zu kompletten Lockdowns vereinbarten. Dass das der beste Rahmen war, bezweifelt Streeck. Kritik daran gab es oft, weil der Bundestag seine Kontrollfunktion nur eingeschränkt wahrgenommen hat.
"Ich habe die Pandemie mitten in der Notaufnahme erlebt"
Viel Klärungsbedarf hat auch die Linken-Abgeordnete Stella Merendino, die ebenfalls dem Gesundheitsausschuss des Bundestags angehört. Ohne Aufarbeitung in einer Enquête-Kommission könnten keine Lehren für die Zukunft gezogen werden, betont die ausgebildete Krankenpflegerin gegenüber der Deutschen Welle. "Ich habe die Pandemie mitten in der Notaufnahme erlebt. Ich habe gesehen, wie Menschen einsam gestorben sind, weil wir sie nicht mehr zu ihren Angehörigen lassen durften."
Die 31-Jährige hat Kolleginnen und Kollegen gesehen, die vor Erschöpfung, Überforderung und aus Trauer zusammengebrochen sind. "Wir haben Schichten durchgearbeitet, ohne zu wissen, ob wir selbst gesund bleiben. Es gab keine ausreichende Schutzausrüstung, keine psychologische Unterstützung, kaum Anerkennung und bis heute keine systematische Auswertung dessen, was das für unser Personal bedeutet hat."
"Das hat Wut geschürt und Misstrauen"
Viele Menschen seien in der Pandemie allein gelassen worden, kritisiert Merendino: mit ihren wirtschaftlichen Sorgen, mit der Kinderbetreuung, mit Einsamkeit oder mit Überforderung. "Das hat Wut geschürt und Misstrauen, das bis heute anhält." Dass sich offene Wunden heilen lassen, hält die frisch in den Bundestag gewählte Gesundheitsexpertin für möglich: "Wir müssen nicht alle überzeugen, aber wir müssen denen zuhören, die offen sind. Und wir müssen als Politik den Mut haben, Fehler einzugestehen."
Von Staat und Gesellschaft erwartet Merendino vor allem mehr Unterstützung für Menschen, die noch immer unter den Folgen von Corona leiden. "Ich kenne Pflegekräfte, die wegen Long Covid heute nicht mehr arbeiten können. Viele kämpfen um Anerkennung, um Diagnostik, um finanzielle Absicherung. Und das in einem Gesundheitssystem, das ohnehin schon überlastet ist."
Bundespräsident Steinmeier hat Betroffene eingeladen
Auch Stella Merendinos Abgeordneten-Kollege Hendrik Streeck vermisst einen tieferen Blick auf die emotionalen Folgen der Pandemie. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zumindest den Versuch unternommen. Schon während der Pandemie, aber auch danach traf er Betroffene aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu Gesprächsrunden. Streeck könnte sich da noch mehr vorstellen, etwa einen von Steinmeier geleiteten Bürgerrat. "So etwas wäre schon hilfreich", sagt er.
Auch ein Blick über die Grenzen könnte bei der Aufarbeitung weiterhelfen, meint Streeck. "Als Wissenschaftler ist es mir wichtig, da auch verschiedene Ergebnisse zu betrachten." Er habe zum Beispiel sehr genau die Berichte aus England gelesen. "Das mag von Land zu Land unterschiedlich gewesen sein, wie gut bestimmte Maßnahmen gewirkt haben", sagt Streeck zurückhaltend.
Streeck plädiert für mehr Daten und Analysen
Für Deutschland diagnostiziert der erfahrene Wissenschaftler, der jetzt auch Politiker ist, Nachholbedarf: "Mehr Daten, mehr Analysen helfen, dass man da ein genaueres Bild bekommt." Damit ließe sich nach seiner Überzeugung auch die von ihm weiterhin beobachtete Spaltung der Gesellschaft abmildern.
Nach dem Ende der Corona-Pandemie unterscheidet Streeck zwischen drei Gruppen: "Die Einen, die sich nicht damit beschäftigen wollen. Die Anderen, die sagen: Wir waren zu lax, wir haben zu wenig gemacht. Und die Dritten, die sagen: Man ist hier viel zu weit vorgegangen." Alle müsse man ernst nehmen, sagt Streeck. "Das Beste, was passieren kann: darüber zu reden."
Dieser Artikel wurde am 08.06.2025 veröffentlicht und zuletzt am 10.07.2025 aktualisiert.