Rund zwei Jahre nach dem Ende des Ausnahmezustands soll der Bundestag Lehren aus dem Umgang mit der Viruserkrankung COVID-19 ziehen. Eine Bestandsaufnahme.
Noch gar nicht so lange her: Die Maskenpflicht in der Corona-Pandemie war in Deutschland erst im April 2023 endgültig vorbei Bild: Frank Hoermann/SVEN SIMON/picture alliance
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Parlamentspräsidentin Bärbel Bas sprach im Februar 2025 Klartext: Die Aufarbeitung der Corona-Pandemie sei eine "offene Baustelle", sagte sie kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit im Deutschen Bundestag. Die Sozialdemokratin ist inzwischen Arbeitsministerin in der vom Christdemokraten Friedrich Merz angeführten neuen Bundesregierung.
Im Koalitionsvertrag steht auf Seite 112 ein Satz, der Bas gefallen dürfte: "Wir werden die Corona-Pandemie umfassend im Rahmen einer Enquête-Kommission aufarbeiten, insbesondere um daraus Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse abzuleiten."
SPD, Grüne und FDP waren sich nicht einig
In der vergangenen Legislaturperiode konnte sich das damals regierende Bündnis aus SPD, Grünen und Freien Demokraten (FDP) nicht auf einen gemeinsamen Arbeitsauftrag verständigen. Einen vergeblichen Vorschlag hatte die Linke im Oktober 2024 gemacht und in ihrem Antrag auf Einsetzung einer Enquête-Kommission zwei Ziele formuliert:
Hendrik Streeck hält Corona-Aufarbeitung für "zwingend notwendig"
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"Erstens soll durch eine ernsthafte Aufarbeitung verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden. Zweitens sollen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen gewonnen werden, die vor und bei einer irgendwann wieder auftretenden pandemischen Situation dabei helfen, einen vorausschauenderen, klügeren und effektiveren Umgang mit dieser Pandemie zu erlangen."
Im zweiten Anlauf soll Versäumtes nachgeholt werden. Wann es losgeht, ist noch offen. Aber die Fachleute sitzen bereits in den Startlöchern. Dazu gehört einer, der während der Pandemie als einer der führenden Virologen Deutschlands bekannt wurde: Hendrik Streeck. Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 hat er für die CDU in Bonn das Direktmandat gewonnen.
Der 47-Jährige sitzt im Gesundheitsausschuss, außerdem ist er Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen. Streeck blickt also aus verschiedenen Perspektiven auf Corona und die Folgen: wissenschaftlich, medizinisch und politisch. Die Aufarbeitung der Pandemie hält er für "zwingend notwendig". Sie sei die größte Krise nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit
Als Parlamentarier erhofft sich Streeck Antworten auf Fragen, die aus seiner Sicht bislang unterbelichtet sind. Zum Beispiel: Wie funktioniert die wissenschaftliche Beratung der Regierung in einer Krise wie der Corona-Pandemie? "Das ist ein Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit", weiß der Virologe aus eigener Erfahrung.
Während der Corona-Pandemie trafen sich die Spitzen aus Bund und Ländern oft im Kanzleramt, angeführt von der damaligen Regierungschefin Angela Merkel (M.) Bild: Michael Kappeler/REUTERS
Außerdem wünscht er sich, dass die Enquête-Kommission einen kritischen Blick auf die Abstimmung zwischen den politischen Ebenen wirft. Während der Pandemie gab es die Ministerpräsidenten-Konferenz, in der die 16 deutschen Landesregierungen mit der Bundesregierung Maßnahmen bis hin zu kompletten Lockdowns vereinbarten. Dass es der beste Rahmen war, bezweifelt Streeck. Kritik daran gab es oft, weil der Bundestag seine Kontrollfunktion nur eingeschränkt wahrgenommen hat.
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"Ich habe die Pandemie mitten in der Notaufnahme erlebt"
Viel Klärungsbedarf hat auch die Linken-Abgeordnete Stella Merendino, die ebenfalls dem Gesundheitsausschuss des Bundestags angehört. Ohne Aufarbeitung in einer Enquête-Kommission könnten keine Lehren für die Zukunft gezogen werden, betont die ausgebildete Krankenpflegerin gegenüber der Deutschen Welle. "Ich habe die Pandemie mitten in der Notaufnahme erlebt. Ich habe gesehen, wie Menschen einsam gestorben sind, weil wir sie nicht mehr zu ihren Angehörigen lassen durften."
Die Linken-Abgeordnete und ausgebildeten Pflegerin Stella Merendino trägt während einer Rede im Bundestag ihre BerufskleidungBild: Katharina Kausche/dpa/picture alliance
Die 31-Jährige hat Kolleginnen und Kollegen gesehen, die vor Erschöpfung, Überforderung und aus Trauer zusammengebrochen sind. "Wir haben Schichten durchgearbeitet, ohne zu wissen, ob wir selbst gesund bleiben. Es gab keine ausreichende Schutzausrüstung, keine psychologische Unterstützung, kaum Anerkennung und bis heute keine systematische Auswertung dessen, was das für unser Personal bedeutet hat."
"Das hat Wut geschürt und Misstrauen"
Viele Menschen seien in der Pandemie allein gelassen worden, kritisiert Merendino: mit ihren wirtschaftlichen Sorgen, mit der Kinderbetreuung, mit Einsamkeit oder mit Überforderung. "Das hat Wut geschürt und Misstrauen, das bis heute anhält." Dass sich offene Wunden heilen lassen, hält die frisch in den Bundestag gewählte Gesundheitsexpertin für möglich: "Wir müssen nicht alle überzeugen, aber wir müssen denen zuhören, die offen sind. Und wir müssen als Politik den Mut haben, Fehler einzugestehen."
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Von Staat und Gesellschaft erwartet Merendino vor allem mehr Unterstützung für Menschen, die noch immer unter den Folgen von Corona leiden. "Ich kenne Pflegekräfte, die wegen Long Covid heute nicht mehr arbeiten können. Viele kämpfen um Anerkennung, um Diagnostik, um finanzielle Absicherung. Und das in einem Gesundheitssystem, das ohnehin schon überlastet ist."
Bundespräsident Steinmeier hat Betroffene eingeladen
Auch Stella Merendinos Abgeordneten-Kollege Hendrik Streeck vermisst einen tieferen Blick auf die emotionalen Folgen der Pandemie. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zumindest den Versuch unternommen. Schon während der Pandemie, aber auch danach traf er Betroffene aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu Gesprächsrunden. Streeck könnte sich da noch mehr vorstellen, etwa einen von Steinmeier geleiteten Bürgerrat. "So etwas wäre schon hilfreich", findet er.
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Auch ein Blick über die Grenzen könnte bei der Aufarbeitung weiterhelfen, meint Streeck. "Als Wissenschaftler ist es mir wichtig, da auch verschiedene Ergebnisse zu betrachten." Er habe zum Beispiel sehr genau die Berichte aus England gelesen. "Das mag von Land zu Land unterschiedlich gewesen sein, wie gut bestimmte Maßnahmen gewirkt haben", sagt Streeck zurückhaltend.
Streeck plädiert für mehr Daten und Analysen
Für Deutschland diagnostiziert der erfahrene Wissenschaftler, der jetzt auch Politiker ist, Nachholbedarf: "Mehr Daten, mehr Analysen helfen, dass man da ein genaueres Bild bekommt." Damit ließe sich nach seiner Überzeugung auch die von ihm weiterhin beobachtete Spaltung der Gesellschaft abmildern.
Nach dem Ende der Corona-Pandemie unterscheidet Streeck zwischen drei Gruppen: "Die Einen, die sich nicht damit beschäftigen wollen. Die Anderen, die sagen: Wir waren zu lax, wir haben zu wenig gemacht. Und die Dritten, die sagen: Man ist hier viel zu weit vorgegangen." Alle müsse man ernst nehmen, sagt Streeck. "Das Beste, was passieren kann: darüber zu reden."
Fünf Jahre Corona: Als die Welt stillstand
Sieben Millionen Menschen sind laut Weltgesundheitsorganisation "an oder mit Corona" gestorben. Fünf Jahre nach Ausbruch der Pandemie beschäftigen die Folgen Politik und Gesellschaft noch immer. Ein Rückblick in Bildern.
Bild: LUIS TATO/AFP/Getty Images
Die Welt im Ausnahmezustand
Im Dezember 2019 wird im chinesischen Wuhan eine neue Lungenkrankheit diagnostiziert, es kommt zu Todesfällen. Innerhalb von Wochen entwickelt sich das neuartige Coronavirus zu einer globalen Herausforderung: Am 11. März 2020 erklärt die Weltgesundheitsorganisation WHO Covid-19 zur Pandemie. Erst später wird ein Test zur Covid-Diagnose entwickelt, den hier eine medizinische Fachkraft durchführt.
Bild: NOEL CELIS/AFP/Getty Images
Helfer am Limit
Covid-19 wird die Welt jahrelang in Atem halten: Schnell ist klar, dass die Krankheit gerade bei älteren oder vorerkrankten Menschen häufig tödlich verläuft. So wie diese belgische Krankenschwester arbeiten Pflegekräfte ebenso wie Ärztinnen und Ärzte weltweit bis zur Erschöpfung. Dass sich das Virus im Verlauf der Pandemie immer wieder verändert, ist eine zusätzliche medizinische Herausforderung.
Bild: ARIS OIKONOMOU/AFP/Getty Images
Trauriger Track
In Europa trifft es Italien besonders hart: Militärlastwagen transportieren im März 2020 in Bergamo Corona-Tote in Krematorien in der Umgebung. Die in der Stadt sind überlastet. An nur einem Tag verzeichnet die Lombardei 300 Tote.
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Lästig, aber nützlich
Sie sind aus dem Alltag bald nicht mehr wegzudenken: Mund-Nasen-Schutzmasken sollen die Ausbreitung des Virus eindämmen. Anfangs noch oft selbst genäht aus Stoff, werden bald FFP2-Masken Standard. Jahrelang ist fast überall auf der Welt das Tragen einer Maske an öffentlichen Orten wie Supermärkten Vorschrift. Forschende bestätigen, dass korrekt getragene Masken das Infektionsgeschehen eindämmen.
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Kurz vorm Kollaps
Die große Anzahl der Patienten bringt viele Krankenhäuser an ihre Belastungsgrenzen. In diesem chinesischen Krankenhaus wurden deshalb kurzerhand Betten in der Lobby aufgestellt. In Indien steht das Gesundheitssystem zeitweise kurz vor dem Kollaps. Verzweifelte Menschen warten vor den überfüllten Krankenhäusern, zeitweise wurden dort 2000 Corona-Tote pro Tag gezählt.
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Lockdown-Leere
So leer wie während der Pandemie waren die Straßen New Yorks wohl nie zuvor und nie danach: Fast alle Länder verhängen Kontaktbeschränkungen und Lockdowns, um die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen. Kitas und Schulen bleiben größtenteils geschlossen, ebenso wie Cafés, Restaurants, Kneipen, Schwimmbäder und Friseure. Wo es möglich ist, arbeiten die Menschen im Homeoffice.
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Essen mit Einschränkungen
Für die Wirtschaft ist die Pandemie ein Schock, der zu einer weltweiten Krise führt: Zahlreiche Gewerbe stehen still, Handel und Konsum brechen ein, das gesellschaftliche Leben wird überall massiv heruntergefahren. Auch nach Lockerung der Lockdowns bleiben Schutzmaßnahmen bestehen - etwa Plastikscheiben in Geschäften und Restaurants, so wie hier in der thailändischen Hauptstadt Bangkok.
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Distanz auf der Decke
Soziale Distanz: In einem Park in San Francisco zeigen Kreise auf den Rasen an, wie weit voneinander entfernt man sich niederlassen darf - durch den Abstand soll das Ansteckungsrisiko minimiert werden. Während der Sommermonate nehmen die Infektionen zwar ab, die Hygienemaßnahmen bleiben jedoch oftmals streng: In einigen Ländern dürfen die Menschen nicht einmal ihre Wohnung verlassen.
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Schlange stehen für die Spritze
Endlich Hoffnung: Inderinnen stehen Schlange, um sich mit dem Impfstoff Covishield impfen zu lassen. In der EU werden bereits Ende 2020 die ersten Covid-19-Impfstoffe von BioNTech/Pfizer und kurz darauf auch von Moderna und Astrazeneca im Eilverfahren zugelassen, mit denen zunächst alte und kranke Menschen sowie Pflegepersonal immunisiert werden. Viele ärmere Länder warten länger auf Impfstoffe.
Bild: DIPTENDU DUTTA/AFP/Getty Images
Problematischer Protest
Nach dem ersten Schock sind die Corona-Maßnahmen der Regierungen in der Bevölkerung vielerorts umstritten: So wie hier in Paris kommt es zu teils gewaltsamen Protesten. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, initiieren oder unterwandern Rechtsextremisten die Demonstrationen. Zudem sind Verschwörungstheorien fester Bestandteil der Proteste - etwa die Behauptung, Corona sei eine "Biowaffe".
Bild: BENOIT TESSIER/REUTERS
Schwieriger Schulstart
Grundschulkinder in Deutschland kehren nach den Sommerferien 2020 in ihre Schule zurück - zuvor hatten sie aufgrund der Schulschließungen monatelang zu Hause lernen müssen. Homeschooling ist sowohl für Eltern als auch Kinder eine Belastungsprobe - und Studien zufolge leiden auch fünf Jahre nach Beginn der Pandemie noch viele Kinder und Jugendliche unter Einsamkeit und psychischen Erkrankungen.
Bild: INA FASSBENDER/AFP/Getty Images
Performance ohne Publikum
Radfahrer zeigen bei den Olympischen Spielen in Tokio ihr Können - doch kaum jemand kann sie dabei anfeuern. Nach Ausbruch der Pandemie wird das ursprünglich für 2020 geplante Sportevent um ein Jahr verschoben - doch auch 2021 hat Corona die Welt noch im Griff. Olympia findet vor leeren Rängen statt.
Bild: LIONEL BONAVENTURE/AFP/Getty Images
Einsames Examen
Studierende der TU Dortmund schreiben im Juni 2020 unter Einhaltung strenger Hygienevorschriften eine Prüfung in der Westfalenhalle - zum ersten Mal in der Geschichte der Universität. Junge Menschen treffen die Kontaktbeschränkungen während der Pandemie besonders hart: Einer Studie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2023 zufolge litten 44 Prozent der deutschen Studierenden unter Einsamkeit.
Bild: INA FASSBENDER/AFP/Getty Images
Bittere Bilanz
Am 5. Mai 2023 hebt die WHO die internationale Gesundheitsnotlage auf, erklärt jedoch gleichzeitig, dass das Virus weiterhin gefährlich bleibe. Bis dahin sind laut der Behörde nachweislich annähernd sieben Millionen Menschen "an oder mit Corona" gestorben, wobei die tatsächliche Zahl auf mindestens 20 Millionen geschätzt wird. In London erinnern rote Herzen an die Toten der Pandemie.