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Gesellschaft

Die Causa Ischgl

Christian Bartlau
12. Oktober 2020

Superspreader für Corona - diesen zweifelhaften Ruf hat sich der Skiort Ischgl in Österreich im März erworben. Nun belegt eine Experten-Kommission schwere Versäumnisse der Behörden. Verantwortung will niemand übernehmen.

Österreich Corona-Pandemie Ischgl
Bild: picture-alliance/dpa/J. Gruber

Roland Rohrer, Vorsitzender der Expertenkommission zum Corona-Krisenmanagement in Ischgl

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Versäumnisse, Verspätungen, Vertuschungen – und eine Fehlerkette von Behördenversagen, die bis hin zu Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz reicht: Die unabhängige Expertenkommission des Landes Tirol hat heute in Innsbruck ihren Bericht zur Causa Ischgl vorgelegt.

Auf 287 Seiten dokumentiert das Gremium, wie das Behördenversagen den "Ballermann der Alpen" zur Corona-Drehscheibe werden ließ. Der Bericht wirft eine schon lange schwelende Frage neu auf: Wer übernimmt die politische Verantwortung für das Desaster?

Bislang hat die Tiroler Regierung vor allem mit Ausflüchten Schlagzeilen gemacht. "Die Behörden haben alles richtig gemacht", hatte der für die Gesundheitspolitik des österreichischen Bundeslandes zuständige Landesrat Bernhard Tilg in einem denkwürdigen Auftritt in Österreichs wichtigster Nachrichtensendung "Zib2" am 16. März 2020 elfmal  hintereinander erklärt.

Drei Tage war es damals her, dass Tausende Touristen auf der Flucht vor der Quarantäne blitzartig Ischgl verlassen hatten. Von dort aus verbreitete sich das Virus in 40 Länder der Welt: Die ersten Fälle in Island wurden bei Skitouristen registriert, in Norwegen hieß Corona nur "Skiferien-Epidemie". Schnell tauchten auch in Deutschland Cluster mit Ischgl-Bezug auf.

Im Sommer nahm der Chef der Tiroler Landesregierung, Landeshauptmann Günther Platter, eine kleine Kurskorrektur vor. Der konservative Politiker der österreichischen Volkspartei (ÖVP) räumte Fehler ein, versicherte aber, alle Entscheidungen seien "nach bestem Wissen und Gewissen" getroffen worden. 

"Alles richtig gemacht": Tirols Landesvater Günther Platter (rechts) und Landesgesundheitsminister Bernhard Tilg (links) bei einer Pressekonferenz am 25. Febuar in InnsbruckBild: Erich Spieß/EXPA/AFP/Getty Images

Falsche Pressemitteilungen

Die Aufarbeitung steht unter internationaler Beobachtung, denn Ischgl gilt mittlerweile als globale Chiffre für die Fehler bei der Eindämmung der Corona-Pandemie in der Anfangsphase. Erst kürzlich veröffentlichte die "New York Times" einen großen Artikel zu Ischgl und der Rolle des Partytourismus.

Am diesem Montag verfolgten mehr als 35 Journalisten aus dem In- und Ausland die Vorstellung des Berichts. Kommissionspräsident Ronald Rohrer präsentiert eine Zeitleiste, angefangen mit den ersten Meldungen über infizierte Touristen aus Island.

Das Krisenmanagement in dieser Phase offenbare "schwerwiegende Versäumnisse", so Rohrer und seine fünf Kollegen. Die Pressemitteilungen des Landes Tirol seien "falsch und damit schlecht", die vorläufige Wiederaufnahme des Betriebs in der Après-Ski-Hütte "Kitzloch" ein Fehler, und die Entscheidung, die Skilifte am 13. März zu sperren, verspätet gewesen.

Flucht in Skistiefeln

Das Chaos, das an diesem Freitag, den 13. März, ausbrach, schildert Rohrer in einem Augenzeugenbericht: Touristen schmissen ihre Ski vor die Leihstationen, teils liefen sie in Skistiefeln zu ihren Autos, um der Quarantäne zu entgehen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte die Quarantäne in einer Pressekonferenz um 14.15 Uhr an, obwohl er nicht zuständig und das Vorgehen nicht mit den lokalen Behörden abgestimmt war. Dies sei "nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich problematisch", heißt es im Kommissionsbericht. Kurz' Ankündigung habe "eine sinnvolle epidemiologische Kontrolle behindert".

Vorerst geschlossen: Après-Ski-Lokale im österreichischen Skiort IschglBild: Getty Images/AFP/APA/J. Gruber

Landeshauptmann Günther Platter weist Kritik nach der Veröffentlichung des Expertenberichts Kritik zurück. Es gebe "fachliche Fehler ja, aber keine bewussten Fehler", erklärt er in einer ersten Reaktion auf den Bericht: "Es ging immer nur um die Gesundheit der Bevölkerung und der Gäste."

Eine Interpretation, die Platter dazu nutzt, nach vorn zu blicken, wo sich dunkle Wolken am Horizont abzeichnen: Die Wintersaison in Tirol ist gefährdet, die Reisewarnung aus Deutschland, woher die Hälfte der rund sechs Millionen Gäste im Winter kommt, macht den Touristikern Sorgen – und auch dem österreichischen Bundeskanzler Kurz.

Après-Ski ist abgesagt

"Reisewarnungen gefährden Arbeitsplätze", sagte Kurz jüngst bei der Vorstellung des Sicherheitskonzeptes für die Wintersaison, die in Ischgl am 26. November anlaufen soll - mit Einschränkungen: Skifahren ja, Après-Ski nein. Dazu sollen Maskenpflicht in den Seilbahnen und regelmäßige Tests beim Personal das Vertrauen wiederherstellen.

Der Tiroler Opposition reicht das nicht. "Wir dürfen nie vergessen: Es sind Leute zu uns gekommen, um Urlaub zu machen – und krank nach Hause zurückgekommen, einige sind verstorben," sagt Markus Sint von der Partei "Liste Fritz", die im Tiroler Landtag zwei Abgeordnete stellt. "Dieses Trauma haben wir zu wenig im Blick."

Auf eine öffentliche Entschuldigung warten die Opfer bis heute.  Und auf Rücktritte, die nicht nur den in Tirol für Gesundheit zuständigen ÖVP-Politiker Bernhard Tilg betreffen. Doch bisher sind alle Verantwortlichen noch im Amt – und daran wird wohl auch der Bericht nichts ändern. 

Brisante Enthüllungen

Tirols Landeshauptmann Platter geriet jüngst erneut unter Druck: Laut der österreichischen Zeitschrift "Profil" hat er den Bezirkshauptmann der Stadt Landeck angeblich angewiesen, Pressemitteilungen zu schönen, um Ischgl "aus dem Schussfeld" zu bekommen.

Die brisanten Informationen erhielt das Nachrichtenmagazin offenbar aus einer Ermittlungsakte, denn seit Sommer ermittelt die Staatsanwaltschaft Innsbruck in Sachen Ischgl. Der Vorwurf an die vier involvierten Personen lautet auf fahrlässige oder vorsätzliche Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten.

Zusätzlich zur strafrechtlichen Aufarbeitung laufen auch noch Schadensersatzklagen gegen die Republik Österreich, auch Sammelklagen sind geplant. Die Aufarbeitung hat also gerade erst begonnen.

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