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Musik

Corona: Die Klassik lernt improvisieren

Rick Fulker
11. Oktober 2020

Nach dem Lockdown im Frühling ist das Konzertleben in Deutschland wieder angelaufen. Jetzt steigen die Corona-Zahlen - eine Herausforderung für die Branche.

Musiker stehen mit Abstand auf der Bühne und spielen vor Sitzreihen mit vielen Publikumslücken (Foto: Wonge Bergmann/Alte Oper Frankfurt).
Die Alte Oper in Frankfurt: Groß genug, um soziale Distanz auf der Bühne und in den Sitzreihen zu ermöglichenBild: Wonge Bergmann/Alte Oper Frankfurt

Mitte August ging die Balletttruppe des russischen Musik-Maestros Valery Gergiev in Quarantäne: Am St. Petersburger Mariinsky-Theater waren Dutzende infiziert. Ende September wurde in der französischen Stadt Rouen eine Aufführung von Richard Wagners Oper Tannhäuser abgesagt, nachdem ein Mitglied des Ensembles positiv auf Coronavirus getestet worden war. Dem Operndirektor wurde vorgeworfen, in der Umsetzung der Hygienevorgaben zu lasch gewesen zu sein, die Proben wurden verboten.

Diese Vorfälle schockierten die europäische Klassikwelt. Gerade erst hat das Kulturleben wieder ein bisschen Fahrt aufgenommen, da stellt sich schon wieder die Frage: Sind Konzerte noch sicher?

Kürzere Programme, strenge Vorgaben

Die erste große Institution, die in der Pandemiesaison wieder halbwegs normale Konzertaktivität entfaltete, waren die Salzburger Festspiele, eines der renommiertesten Kulturfestivals der Welt. Die Sonderausgabe im August wurde allerdings als Wagnis wahrgenommen. Vor kurzem hat die Schweiz angekündigt, die Stadt Salzburg als Risikogebiet zu erklären. Von den Neuinfektionen sind jedoch keine auf die Festivalveranstaltungen zurückzuführen.

Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner PhilharmonieBild: Matthias Baus/KölnMusik

Ähnlich sieht es bei der Kölner Philharmonie aus. Auch hier ist der Betrieb wieder angelaufen, Infektionsfälle, die auf einen Konzertbesuch zurückzuführen sind, gibt es bisher keine. Intendant Louwrens Langevoort vergleicht sein Haus mit "jemandem, der längere Zeit geruht hat, jetzt wieder am Leben teilnimmt und immer mehr Spaß bekommt, um dieses Leben zu genießen." Die Bestimmungen für die Philharmonie sind vergleichsweise locker: Nach dem vom Land Nordrhein-Westfalen genehmigten "Schachbrettmuster" bleibt im Saal zwischen den einzelnen Konzertbesuchern oder Paaren jeweils ein Platz frei. Dadurch darf die Philharmonie mit ihren 2.000 Plätzen etwa zur Hälfte gefüllt werden.

Dennoch kommt das Publikum noch nicht in Scharen wieder, so Langevoort: "Viele der Gäste, die vor dem 10. März noch da waren, haben Angst oder zögern, ob sie wirklich in ein Konzert kommen möchten. Kann sein, dass sie den Empfehlungen der Bundesregierung folgen, alles Nichtnotwendige sein zu lassen. Kann aber auch sein, dass sie gerne kommen würden, aber dann nicht ein ganzes Konzert erleben möchten."

Nach dem Pandemieplan in Köln und in anderen Klassikhochburgen sind die Programme nun kürzer. Repertoirestücke, die ein volles Orchester erfordern, werden gestrichen. Soziale Distanz gilt auch für die Instrumentalisten; meist passen nur 50 bis 60 Musiker auf die Bühne anstatt, wie üblich, 100 oder mehr. Kleinere Formationen sind nun gefragt, und ganze Bereiche der Kammermusik, die sonst selten gespielt werden, feiern fröhlichen Urständ.

Gute Planung und Mut zur Improvisation gefragt

Konzertveranstalter planen normalerweise zwei bis drei Jahre im Voraus. Oft gibt es ein Tauziehen um die Starmusiker, die ständig auf Reisen sind. Veranstalter wie Ausführende haben im Jahr 2020 nun Neuland betreten, Improvisationsvermögen ist gefragt: Eine Eigenschaft, für die die Branche ansonsten nicht besonders bekannt ist.

In Köln stand letztens ein Auftritt des Artemis Quartetts auf dem Spiel: Das Ensemble hatte am Vorabend in Brüssel gespielt, und da Belgien zum Risikogebiet erklärt wurde, mussten die vier Mitglieder auf das Coronavirus getestet werden. Eines der Testergebnisse kam jedoch nicht zurück, die Person musste in Quarantäne bleiben. Was tun? 

Ganze 55 Minuten vor Konzertbeginn wurde ein ortsansässiger Pianist kontaktiert, der in die Philharmonie eilte und sich dann schnell mit den anderen drei Musikern auf ein Programm einigte. "Über 600 Personen waren im Saal, und sie waren überglücklich", erzählt Louwrens Langevoort. "Ich habe höchstes Lob für diese Musiker: Dass sie in kürzester Zeit ein vollkommen anderes Programm darbieten konnten. Das war ein Ritt über den Bodensee. Aber davon lebt die Kunst auch. Dasselbe könnte auch passieren, wenn wir ein Orchester aus London, aus Österreich oder Frankreich haben. Es kann sein, dass von einem Tag auf den anderen ein Land zum Risikogebiet erklärt wird, und dass man dann unter schwierigen Vorschriften die Einreise erkämpfen muss."

Maske bleibt auf!

Andrea Zietzschmann ist verhalten optimistisch - auch wegen des Belüftungssystems ihres HausesBild: Stefan Hoederath

Vom Rhein an die Spree zu Andrea Zietzschmann, der Intendantin der Berliner Philharmoniker. Für sie waren die Auftritte des Chamber Orchestra of Europe mit dem Dirigenten Simon Rattle in Berlin kürzlich "ein kleines Wunder, denn die Mitglieder kommen aus so vielen verschiedenen Ländern. Es gab viele Mühen, das mit Quarantänen und Testungen zu organisieren. Für das Orchester waren es die einzigen Konzerte in diesem Jahr, seit Corona."

Zietzschmanns eigenes Orchester, die Berliner Philharmoniker, spielt vor Ort derzeit vor einem wieder wachsendem Publikum: Im September durften 670 Gäste in die Philharmonie, das waren mehr als im August. Im November sollen es dann rund 1000 sein, dann wird auch in der Hauptstadt das Schachbrettmuster zugelassen.

Allerdings mit einer Auflage des Berliner Senats: Gesichtsmasken müssen durchgehend getragen werden, von dem Moment an, in dem die Besucher das Haus betreten, bis sie es wieder verlassen - anders als bei der jetzigen Regelung, bei der die Maske zu Beginn des Konzerts auf dem Platz abgesetzt werden darf. "Wir hatten schon Rückmeldungen, dass vielleicht zehn Prozent dann eher wegbleiben," sagt Zietzschmann. "Aber angesichts der momentanen Lage, glaube ich, dass es die richtige Entscheidung war."

Was die Menschen hören wollen

Konzert-Experiment in Leipzig

01:35

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Da weniger Einlasskarten im Umlauf sind, könnte man annehmen, dass alle schnell verkauft werden. So ist es aber bisher nicht, berichtet Intendantin Andrea Zietzschmann. "Es ist eine interessante Erfahrung: Das Vertrauen des Publikums muss wachsen. Man schaut genau: 'Was kaufe ich? Oder auch nicht.' Beim Musikfest Berlin mit seinen 33 Konzerten waren die Abende mit zeitgenössischer Musik schlechter besucht als etwa ein Cellorezital, bei dem Nicolas Altstaedt Suiten von Bach spielte. Das bildet die Verhältnismäßigkeit ab, die wir auch sonst kennen."

Die Berliner Philharmonie, ein Bau aus den 1960er-Jahren, kann ein Belüftungssystem vorweisen, bei dem Frischluft vom Boden her abgesogen und bis zur Decke zirkuliert, so dass "die Möglichkeit für ein Superspreader-Event eigentlich ausgeschlossen werden kann", so Zietzschmann. "Obwohl man natürlich nirgendwo im Alltag eines ausschließen kann."

Zukunftssorgen in Frankfurt 

Markus Fein rechnet mit schweren ZeitenBild: Salome Roessler/lensandlight

Auch in der Alten Oper in Frankfurt am Main wird für Belüftung gesorgt: Die Strömungsverläufe garantieren alle 30 Minuten eine vollkommene Erneuerung der Innenluft. Doch auch in Frankfurt sind die Corona-Zahlen gestiegen, am Wochenende wurde daher eine Sperrstunde in der Gastronomie ab 23 Uhr eingeführt. Welche Auswirkungen das auf seinen Betrieb haben wird, darüber ist sich Opern-Intendant Markus Fein noch unklar.

Anders als in Köln und Berlin sehen lokale Vorgaben eine Belegung seines Hauses von maximal 600 der insgesamt 2.400 Sitzplätze vor. Gastauftritte des italienischen Pianisten Mauricio Pollini sowie der Münchner und Berliner Philharmoniker waren in Frankfurt ausverkauft. Dennoch ist es für Fein eine besorgniserregende Zeit, denn "je länger die Pandemie anhält, desto größer wird die wirtschaftliche Not." Haupteinnahmequelle eines Konzertsaals ist ihre Vermietung. Doch erst ab 700 bis 800 Besuchern können Konzertveranstalter kostendeckend wirtschaften. "Wir werden bald zu Übergangsphänomen kommen und auch Rückschläge erleben, in den nächsten Wochen vielleicht", sagt Fein.

Der Klassikfan: Ganz diszipliniert

Während eines Konzertes "halten die Leute nicht nur die Abstandsregeln ein. Ein Publikum sitzt fest verankert und nach vorn gerichtet auf einem Stuhl und unterhält sich meist nicht mit anderen Gästen", erläutert Fein. So erscheint das Potential der Virusverbreitung bei einem Klassikkonzert geringer als bei etwa einem Rockkonzert oder -festival.

Max Wagner agiert in Bayern mit strengsten AuflagenBild: Achim Graf

In Bayern, dem Bundesland mit der höchsten Infektionsrate und in der Folge mit den strengsten hygienischen Bestimmungen, spielen solche Erwägungen allerdings kaum eine Rolle. In München war das Gasteig-Kulturzentrum eines der ersten Häuser, das ein Hygienekonzept bereits im Frühling vorlegte, zum bisherigen Höhepunkt der Pandemie. Dessen Intendant Max Wagner wartet immer noch auf die Einführung des Konzepts, musste jedoch bisher die vom Land verordnete pauschale Publikumshöchstzahl einhalten: zunächst waren es 50 Personen, kurz vorm Sommer dann 100, zurzeit 200 - ungeachtet dessen, ob es um es sich um eine Sport-, Unterhaltungs- oder Kulturveranstaltung handelt.

In jüngster Zeit lässt Bayern ein Pilotprojekt zu: In drei der größeren Hallen des Landes werden bald 500 Besucher zugelassen. Eine davon ist die Philharmonie am Gasteig. Dort verlässt man sich auf die zwei großen öffentlich subventionierten Klangkörper der Stadt, um den Betrieb aufrechtzuerhalten: die Münchner Philharmoniker und das Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks.

Doch der Vergleich zu früher ist auffallend: "Die Konzerte, eins oder zwei der Woche, sind gut ausgelastet, aber im Rest der Woche passiert nichts", so Wagner. "In der Philharmonie hatten wir früher zwei, manchmal drei Veranstaltungen am Tag." Wagner plädiert für eine differenzierte Anwendung von Sicherheitskonzepten: "Das Klassikpublikum ist nicht die Klientel, die gegen Corona-Maßnahmen verstößt. Ich hoffe, dass das gesehen und verstanden wird."

Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker: Ausverkauft vor leeren StühlenBild: Hans Engels

Solidarität gefragt

Der Gasteig in München, die Philharmonien in Köln und Berlin, die Alte Oper in Frankfurt und die Elbphilharmonie in Hamburg müssen während der Pandemie auf ständig sich verändernde Situationen reagieren. Bei allen ist die Angst vor einem erneuten Lockdown spürbar - sollte die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland wieder außer Kontrolle geraten.

Das sind die großen Häuser. Die vielen kleineren im Lande - und die Künstler, die dort auftreten - haben es ungleich schwerer. Gerade diese sind aber auch im Blickfeld der Großveranstalter, weil sie für das Musikleben unentbehrlich sind, meint Louwrens Langevoort: "Sie sind ein Teil der künstlerischen Familie. Wir müssen auch nach der Krise mit diesen Kräften weiterarbeiten. Dass wir sie jetzt unterstützen, ist eine absolute Notwendigkeit."

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