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Politik

Corona in Göttingen: Alarmstufe dunkelgelb

9. Juni 2020

Nach einem massiven Anstieg von Corona-Neuinfektionen vor allem in einem Hochhaus könnte der Stadt Göttingen ein Lockdown drohen. Gleichzeitig beginnt eine Diskussion über die Verantwortung für den Ausbruch.

Deutschland Coronaausbruch in Göttingen Iduna-Zentrum in Göttingen
Bild: DW/O. Pieper

Wenn Deutschland zu Beginn der Corona-Krise gebannt auf Bundeskanzlerin Angela Merkel geschaut hat, und später, als die Ministerpräsidenten das Ruder übernahmen, auf Markus Söder (CSU), Armin Laschet (CDU) oder Bodo Ramelow (Die Linke), richten sich nun alle Augen auf die Kommunen und Menschen wie Petra Broistedt: Die Stadträtin von Göttingen, die sich sonst im Stillen für Wohnungsbau, das Sozialticket oder auch ein breiteres Kulturangebot stark macht, ist jetzt als Leiterin des Krisenstabs Göttingens oberste Corona-Krisenmanagerin. "Ich habe manche schlaflose Nacht gehabt in der letzten Zeit, es ist eine riesige Herausforderung", sagt die studierte Sozialarbeiterin.

Denn die Universitätsstadt ist seit einigen Tagen ein Corona-Hotspot in Deutschland, die Infiziertenzahlen schießen in die Höhe. Göttingen kratzte hauchdünn an der Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen einer Woche. Wird die 50 gerissen, müssen die Kommunen wieder herunterfahren.

Schlaflose Nächte: Corona-Krisenmanagerin Petra Broistedt ist zuständig für Kultur, Soziales und das GesundheitsamtBild: DW/O. Pieper

Petra Broistedt will einen kompletten Lockdown mit aller Kraft verhindern, macht Schulen, Kindertagesstätten und ein Freibad zu, verbietet Mannschaftssportarten und lässt alle Bewohner eines Altenheims auf COVID-19 testen. "Als Mutter, die auch auf Kinderbetreuung angewiesen ist, fällt mir das nicht leicht", sagt Broistedt, "aber ich hoffe, so bekommen wir die Situation in den Griff."

Ob Göttingen weiter Richtung Lockdown zusteuert, hängt aber vor allem von der weiteren Entwicklung im Iduna-Zentrum ab. Der Betonklotz am Rande der Innenstadt, der auch schon als düstere Kulisse für die Krimiserie Tatort diente, gilt als Ursprung des massiven Corona-Ausbruchs. Broistedt ließ in der Tiefgarage schnurstracks ein mobiles Testzentrum hochziehen, um weitere Ansteckungen auf dem Weg zu den Kliniken zu vermeiden. Mediziner und Medizinstudenten testeten im Drei-Minuten Takt am Freitag, Samstag und Sonntag über 400 Bewohner des Komplexes auf das Virus.

"Aktuell haben wir 60 Infizierte im Iduna-Zentrum", erläutert Broistedt, "alle Infizierten und die Kontaktpersonen ersten Grades gehen für zwei Wochen in die Quarantäne." Von einer kompletten Quarantäne des Hochhauses, wie schon manche in Göttingen fordern, will die Stadträtin nichts wissen. "Wir können da ja nicht Zaun und Stacheldraht drum legen. Das ist ja kein Gefängnis", sagt Broistedt.

Iduna-Zentrum heißt in Göttingen jetzt "Corona-Haus"

Heiko, der seit Jahren im Iduna-Zentrum lebt, fühlt sich in den letzten Tagen aber wie ein Gefangener - auf alle Fälle abgestempelt als Krimineller, seinen vollen Namen will er nicht nennen. Weil er wie alle Bewohner des nur noch "Corona-Haus" genannten Komplexes verantwortlich gemacht werde für den Ausbruch, dafür, dass alle Schulen in Göttingen am Sonntagabend um eine weitere Woche geschlossen wurden, sagt er. "Ich werde auf der Straße schief angesehen, die Menschen lästern im Vorbeigehen. Manche haben mir sogar schon hinterher gespuckt."

"Wir Bewohner des Iduna-Zentrums haben es nicht verdient, dass so über uns hergezogen wird"Bild: DW/O. Pieper

Das Iduna-Zentrum, benannt nach der Versicherung, die das Haus Anfang der 1970er Jahre bauen ließ, war vor einem halben Jahrhundert noch Prestigeobjekt, Wohnraum für betuchte Akademiker mit Schwimmbad und Einkaufszentrum sowie beliebtes Postkartenmotiv von Göttingen. Heute gilt es als sozialer Brennpunkt, als Zuhause für viele Abgehängte. Die zwei Brücken, die das Hochhaus noch vor Jahrzehnten mit der Innenstadt und der Universität verbanden, wurden abgerissen - mehr als ein symbolischer Akt.

Die Verbindung zwischen quirliger Universitätsstadt mit über 30.000 Studenten und pittoresker Fußgängerzone sowie dem Hochhaus mit seinen 407 Wohnungen ist schon seit Ewigkeiten gekappt. Menschen wie Heiko zahlen dafür den Preis: "Ich wünsche mir von den Göttingern einfach, dass sie aufhören, die Bewohner des Iduna-Zentrums so scharf zu verurteilen."

Die Göttinger Fußgängerzone - in der niedersächsischen Universitätsstadt geht die Sorge vor einem Lockdown umBild: DW/O. Pieper

Suche nach Verantwortlichen für den Corona-Ausbruch

Noch härter als Heiko trifft es die Familien, die Ende der 1990er Jahre aus dem Kosovo geflohen waren und heute im Iduna-Zentrum leben. Neben dem sogenannten "Patienten Null" aus dem Hochhaus, der mehrmals gegen die Quarantäneregeln verstoßen haben soll und gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt, vermutet das Göttinger Gesundheitsamt private Feiern zum muslimischen Zuckerfest als Ausgangspunkt des Corona-Ausbruchs. Es soll auch ein Zusammentreffen von mehr als 30 Männern in einer Göttinger Shisha-Bar gegeben haben, ohne beim Rauchen der Pfeife das Mundstück zu wechseln.

Was folgt, ist eine hitzige Debatte, bei der viel Porzellan zerschlagen wird und wo es am Ende nur Verlierer gibt: In sozialen Netzwerken giftet die AfD gegen das "offensichtlich dreiste und ignorante Verhalten von arabischen Großfamilien", rechte Hetzer springen in den sozialen Netzwerken mit rassistischen Anfeindungen auf den Zug auf. Medien werden auf das Thema aufmerksam, postieren sich mit einem Großaufgebot vor dem Iduna-Zentrum und werden von Bewohnern, die sich falsch dargestellt fühlen, mit Gemüse beworfen.

In Göttingen gab es Proteste gegen Rassismus - nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USABild: DW/O. Pieper

Die Familien aus dem Kosovo beklagen eine Stigmatisierung und widersprechen in einer Gegendarstellung vehement, dass es überhaupt Großfeiern gegeben habe. Sie kritisieren, dass Familienmitglieder von Teststationen weggeschickt worden seien und verweisen darauf, dass der "Patient Null" eine andere Nationalität habe und sie das Gesundheitsamt mehrere Male erfolglos auf seine Quarantäne-Verletzungen hingewiesen hätten.

Gestörtes Vertrauensverhältnis mit der Stadt

"Das sind Ressentiments, die hier schon immer bestehen. Und jetzt blühen sie wieder auf", sagt Meinhart Ramaswamy. Der Kreistagsabgeordnete der Piraten kümmert sich seit Jahren um eine Göttinger Familie aus dem Kosovo. Er befürchtet, dass der Graben zwischen Stadt und Polizei auf der einen Seite und den Bewohnern des Iduna-Zentrums durch die Corona-Krise wieder aufbricht. Und damit Initiativen wie von der Jugendhilfe Göttingen, die sich im Hochhaus um Familien und Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien kümmert, torpediert werden.

Das Verhältnis sei seit Jahren von Misstrauen geprägt: belastet von schwebenden Asylverfahren, unsicheren Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen und Abschiebungen in den Kosovo. "Es war in der Vergangenheit schon so, dass die Polizei da sehr rigoros vorgegangen ist", berichtet Ramaswamy.

Meinhart Ramaswamy: Über den Zahnarzt, der in Ischgl war, wurde nicht berichtetBild: DW/O. Pieper

Auf der anderen Seite sei die Kommunikation mit der ersten Generation, die vor 20 Jahren nach Göttingen kam, schwierig: Die Behörden drängen wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht durch - was gerade in Zeiten von Corona fatale Konsequenzen haben kann.

"Wir haben hier in Göttingen einen Zahnarzt gehabt, der in Ischgl Ski gefahren ist und danach hier noch Patienten behandelt hat. Davon hat niemand berichtet", kritisiert Meinhart Ramaswamy die ungleiche Berichterstattung in den Medien. Auch bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen oder auch bei der Bootsparty auf dem Berliner Landwehrkanal hätte es zu einem Ausbruch kommen können. Das Fazit des Lokalpolitikers: "Ein Haus, wo viele Menschen auf sehr engem Raum wohnen, und das vergleichsweise schlecht renoviert ist, ist der Boden für einen solchen Ausbruch."

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