Griechenland: Corona gefährdet Flüchtlinge
20. August 2020Nur wenige Touristen erreichen im Sommer 2020 die griechische Insel Lesbos. Corona hat die Reiselust der Menschen erheblich gedämpft. Nur Hartgesottene lassen sich dieses Jahr blicken.
Bei ihrem Landeanflug überfliegen sie eine riesige Zeltstadt. Befänden wir uns nicht inmitten einer weltweiten Pandemie, könnte man meinen, dass die Insel ein großes Festival veranstaltet. Doch in Wirklichkeit handelt es sich bei der postapokalyptischen Siedlung um Moria, Europas größtes Flüchtlingslager.
Für 3.000 Menschen war das Camp ursprünglich konzipiert, derzeit fasst es um die 13.000 Bewohner. Noch hat sich Corona dort nicht ausgebreitet. Aber Experten warnen: Für einen Ausbruch des Virus ist die Insel nicht gewappnet.
Seit wenigen Monaten erst ist Caroline Willemen auf Lesbos. Sie arbeitet als Feldkoordinatorin für Ärzte ohne Grenzen. Ihre Aufgabe: Corona-Intervention. Die Umstände auf der Insel bereiten der Belgierin große Probleme bei ihrer Arbeit.
Ein undenkbarer Ort
"Ich weiß, das ist kein wissenschaftlicher Vergleich. Aber in einer Zeit, in der alle Großveranstaltungen abgesagt werden, weil die Ansteckungsgefahr zu groß ist, ist dieser Ort einfach undenkbar," äußert sich Willemen besorgt im Gespräch mit der DW.
Immer wieder ruft die Athener Regierung zur Vorsicht auf. Die Ansteckungsrate in Griechenland steigt. Im kaum zehn Kilometer entfernten Mytilini, der Hauptstadt der Insel Lesbos, scheint sich Corona langsam unter der Lokalbevölkerung auszubreiten. Daher die Forderung der Experten: Maske tragen, Abstand halten, Hände waschen, desinfizieren, Selbstisolierung bei Unwohlsein.
Händewaschen faktisch ausgeschlossen
"All das sind Maßnahmen, die in Moria völlig unrealistisch sind", kritisiert Willemen. "Selbst wenn sie so viel Zeit wie möglich in ihrem Zelt verbringen, dann müssen sie sich trotzdem drei Mal am Tag mit tausenden Anderen zum Essen anstellen. Dasselbe gilt für die Dusche oder das Klo. Es ist unmöglich, Menschenmassen zu vermeiden."
Selbst regelmäßiges Händewaschen sei faktisch ausgeschlossen. Caroline Willemen bedient den Vergleich zwischen dem Sommerfestvial und Moria nur ungern. Niemand wolle in Moria leben, sagt sie. Doch so viele Menschen auf so wenigen Quadratmetern, die hygienischen Umstände: Einfacher könne man es dem Virus nicht machen.
Symbolische Maßnahmen
Die Maßnahmen der griechischen Behörden zur Corona-Vorsorge in den Flüchtlingsunterkünften scheinen vor allem symbolischer Natur zu sein. Im März kam aus Athen die Aufforderung an die Asylsuchenden, sich an die Hygienevorschriften zu halten. Außerdem wurde die Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Seitdem dürfen nur noch 150 Menschen pro Stunde das Lager verlassen. Während die übrige Bevölkerung sich nach einem strengen, beinahe zwei Monate andauernden Lockdown wieder frei bewegen darf, sind die Ausgangssperren für Asylsuchende seitdem zum siebten Mal verlängert worden.
Mehr Boote mit Flüchtlingen
Jetzt, im Sommer, hat sich die Anzahl der Boote mit Asylsuchenden, die es von der türkischen Küste nach Lesbos schaffen, deutlich erhöht. Mitarbeiter von NGOs und Freiwillige führen Temperaturmessungen durch und befragen die Neuankömmlinge hinsichtlich der Corona-üblichen Symptome.
Zudem gibt es auf Lesbos zwei Quarantäne-Stationen, auf denen neu angekommene Migranten für eine Woche isoliert werden. "Niemand weiß genau, was dort passiert," erklärt die freie Journalistin Franziska Grillmeier. Sie lebt seit einigen Jahren auf der Insel und berichtet regelmäßig über die Entwicklungen dort.
Intransparente Behörden
Grillmeier beklagt das intransparente Verhalten der griechischen Behörden, gerade in Zeiten von Corona: "Niemand hat Zugriff auf die offiziellen Quarantäne-Stationen für Asylsuchende. Eine medizinische und rechtliche Versorgung ist nicht gewährleistet. Natürlich verstehe ich auch, dass dort infizierte Menschen sind - aber das Problem ist, dass für alle, die in den Wochen zuvor auf Lesbos ankamen, die Uhr zurückgestellt wird und die Isolation von null beginnt, wenn eine positiv getestete Person dort untergebracht wird."
Die Journalistin ist besorgt über diese Entwicklungen. Für sie steht fest: Athen missbraucht Corona, um die eigene Flüchtlingsagenda durchzusetzen: "Es ist klar, dass die Pandemie in diesem Moment genutzt wird, um Menschen weiterhin einzuschließen. Dadurch lässt man die Spaltung zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen noch größer werden."
Gegen Hilfsorganisationen
Unter dem Deckmantel der Gesundheitspolitik würden auch die Wirkungsräume von Hilfsorganisationen weiter eingeschränkt: "Umso weniger unabhängige Akteure vor Ort wirken können, umso mehr freie Hand hat die Regierung", meint Grillmeier.
Das bekam kürzlich auch Ärzte ohne Grenzen zu spüren. "Wir hatten ein Lagerhaus gemietet und darin eine Covid-Station für Flüchtlinge eingerichtet," berichtet Caroline Willemen. Das Krankenhaus von Mytilini begrüßte den Schritt. Für eine Gesamtbevölkerung von 100.000 Menschen stünden auf der gesamten Insel nur sechs Intensivbetten zur Verfügung. Schnell hätte man die Kapazität der improvisierten Klinik in Form von Zelten und Containern aufstocken müssen.
Unverständliches Vorgehen
Dann aber kam ein Brief der Inselbehörden. Ein Anwohner hatte sich beschwert. Daraufhin wurde ein Bußgeld von 35.000 Euro gegen Ärzte ohne Grenzen verhängt. Man drohte sogar mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der offizielle Grund: Die Klinik befindet sich in einem Gewerbegebiet.
Für Caroline Willemen ist dieses Vorgehen unverständlich. Ärzte ohne Grenzen habe sowohl die lokalen Behörden als auch das zuständige Ministerium informiert und zur Besichtigung der Klinik eingeladen. Inzwischen habe man die Einrichtung wieder geschlossen - und auch die extra ausgebildeten 50 Mitarbeiter aus Lesbos habe man wieder entlassen müssen. "Das Bußgeld ist die eine Sache. Aber strafrechtliche Konsequenzen sind ein Risiko, dass wir nicht eingehen können."
Eine Frage der Zeit
Willemen kritisiert: Niemand profitiere von der Schließung der Corona-Klinik. Inzwischen seien 48 Menschen auf Lesbos positiv auf Covid 19 getestet worden. In Moria habe sich das Virus noch nicht ausgebreitet, dessen ist sich Ärzte ohne Grenzen beinahe sicher: "Es ist möglich, dass es positive asymptomatische Fälle gibt. Wir glauben jedoch, dass es unwahrscheinlich ist, dass sich das Virus stark verbreitet hat, da bei 13.000 Menschen die Wahrscheinlichkeit, keine symptomatischen Fälle zu sehen, extrem gering ist."
Dennoch befänden sich allein in Moria 300 bis 400 Menschen, die zu einer Covid-Risikogruppe gehören. "Es ist reine Glückssache, dass es in Moria bisher keinen Ausbruch gab", erklärt Willemen. Bis der komme, sei nur eine Frage der Zeit. Und: Lesbos verfüge in keinster Weise über die Kapazitäten, um mit einer solchen Situation umzugehen.