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Corona in Russland: Der Aufschrei der Ärzte

Elena Barysheva mo
2. Mai 2020

Ärzte und Rettungssanitäter aus verschiedenen russischen Städten haben der DW erzählt, unter welchen Bedingungen sie COVID-19 bekämpfen und wie die Anordnungen der Behörden in Wirklichkeit umgesetzt werden.

Russland Moskau Coronavirus RZD Medical Centre
Ärzte in einem Krankenhaus in MoskauBild: picture-alliance/dpa/D. Grishkin

Moskau ist das Epizentrum des Kampfes gegen COVID-19 in Russland. In der russischen Hauptstadt gibt es bereits über 50.000 Erkrankte. Aber auch in den Regionen des Landes steigt allmählich die Zahl der Infizierten. Manche waren zuvor im Ausland, manche zu Besuch bei Verwandten in großen Städten. Insgesamt sind in Russland mehr als 100.000 Menschen infiziert. Die DW hat mit Ärzten in verschiedenen Regionen des Landes über die Corona-Situation gesprochen. Sie sagen, in vielen russischen Städten würde akuter Mangel an Schutzausrüstung und an Corona-Tests bestehen. Da einige aus Furcht vor ihrer Entlassung anonym bleiben wollen, wurden ihre Namen von der Redaktion geändert.

Dmitrij Serjogin, Rettungssanitäter in Orjol:

"Der Schutz ist natürlich unzureichend. Sehr oft fahren wir zu Patienten und haben nur eine Maske, Handschuhe und eine Brille. Besondere Schutzanzüge sind nur für Einsätze bei bestätigten Coronavirus-Patienten vorgesehen. Sie werden in der zentralen Dienststelle aufbewahrt, und es gibt nur sehr wenige davon. Bei einem normalen Einsatz bekommt man solche Anzüge nicht, auch nicht, wenn ein Verdacht auf Lungenentzündung besteht. Ich persönlich habe noch keinen Patienten mit einer bestätigten COVID-19-Diagnose transportiert, aber dies ist nur eine Frage der Zeit.

Was den Mangel an persönlicher Schutzausrüstung angeht, werden der Leitung keine Vorwürfe gemacht, da alle Kapazitäten in die Millionenstädte abgezogen werden. Selbst bei Ausschreibungen kann man nicht alles kaufen, was man braucht. Früher oder später wird sich das medizinische Personal infizieren.

Coronavirus in Russland: Ein Patient steigt aus dem Krankenwagen ausBild: picture-alliance/dpa/Tass/S. Bobylev

Außerdem ärgert einen die Lügerei: Vor kurzem haben Jungs vor Ort, die sich mit 3D-Druck beschäftigen, 100 Gesichtsvisiere hergestellt und diese unserem Rettungsdienst gebracht. Man kann sie anstelle von Schutzbrillen tragen, die ständig fehlen. Ich habe mich mit den Jungs getroffen und mich bei ihnen bedankt. Dabei stellte sich heraus, dass sie versucht hatten, die Visiere über das örtliche Gesundheitsamt an uns zu übergeben. Dort hatte man aber gesagt: "Es ist von allem genug da." Als ich das gehört habe, wollte ich in diesem Moment aus Wut dort jemandem eine scheuern. Wenn Freiwillige unserem Rettungsdienst auch noch 100 Schutzanzüge oder Atemschutzmasken bringen würden, die man nirgends bekommt, wären wir dankbar.

Das größte Problem sind allerdings die Corona-Tests bei Ärzten. Alle Mediziner mit potenziellen Kontakten müssen mindestens einmal pro Woche entsprechende Test machen lassen. Aber einige, darunter auch ich, wurden gar nicht oder nur einmal im Monat getestet. Wir sind ein junges Team, wir können das Coronavirus in uns tragen, ohne Symptome zu haben. Aber was ist mit unseren Patienten? Eigentlich ist dies ein italienisches Szenario, wo von Medizinern die Ausbreitung der Infektion ausgeht. Ältere und chronisch kranke Patienten tun einem leid, denn sie sind Geiseln dieser Situation. Wir haben die lokalen Medien darauf aufmerksam gemacht und offenbar wird jetzt schneller getestet. Dennoch halte ich mich von meinen älteren Verwandten fern und bin vorübergehend zu meiner Freundin gezogen."

Igor (Name geändert), Radiologe in Twer:

"In zwei Krankenhäusern der Stadt Twer führe ich bei Patienten mit Verdacht auf COVID-19 die Computertomographie durch. An beiden Standorten gibt es viel zu tun. Eines Tages lagen bei uns morgens auf einmal zehn Patienten und am Abend waren es schon 50 Menschen. Auch Ärzte erkranken. Bei uns liegen Kollegen aus einem benachbarten Krankenhaus. Es gibt Schutzanzüge, aber ich würde nicht sagen, dass wir sie im Überfluss haben. Beatmungsgeräte haben wir noch genug. Versprochen wurde, dass noch ein zweites CT-Gerät angeschafft wird.

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Ich war in der sogenannten "schmutzigen Zone", wo Patienten mit COVID-19 liegen. Ich weiß, dass es Kliniken gibt, in denen das Personal zwölf Stunden im Einsatz ist und Windeln trägt. Bei uns arbeiten die Ärzte durchschnittlich vier bis sechs Stunden. An einem Tag wechseln sich zwei Teams ab. Für mich persönlich ist die Maske das Schwierigste. Sie drückt und man schwitzt. Ich trage auch eine Brille, die beschlägt. Am häufigsten infiziert sich das Personal bei Bronchoskopien und beim Umziehen. Hauptsache ist, sich richtig auszuziehen.

Was als nächstes passiert, weiß ich nicht. Der Höhepunkt der Epidemie ist in unserer Region noch nicht erreicht. Für Corona-Patienten wurde zusätzlich ein fünfstöckiger Gebäudetrakt hergerichtet. Er ist noch nicht voll. Wir hoffen sehr auf die von Putin im Fernsehen versprochenen Zulagen für Ärzte. Ich sehe, dass das gesamte medizinische Personal in Sorge ist und sich innerlich auch darauf einstellt, betrogen zu werden."

Olga (Name geändert), Rettungssanitäterin in Wladimir:

"Die Patienten in unserer Stadt tun mir sehr leid. Bei ihnen werden so gut wie keine Abstriche entnommen. Vom örtlichen Verband der Regierungspartei "Einiges Russland" heißt es, bei uns sei alles gut, aber bei uns ist nichts gut. Um einen Coronavirus-Test zu erhalten, muss man alle seine Freunde mobilisieren, die Kontakte in den städtischen Behörden haben.

Von einem CT ganz zu schweigen - es werden einfach keine gemacht und so werden Erkrankte ohne Symptome nicht erfasst. Die Leute werden nicht behandelt und nach Hause geschickt. Nach einigen Tagen bringt unser Rettungsteam sie wieder ins Krankenhaus, aber in einem sehr kritischen Zustand. Wir haben uns darüber vergeblich beschwert.

Was die Schutzausrüstung angeht, so erhielten wir einfache Operationskittel. Doch wir beriefen uns auf die Anordnung des Gesundheitsministeriums Nr. 198n, in der klar steht, welche Anzüge und Atemschutzmasken verwendet werden sollen. Man sagte uns: 'Übertreibt nicht, jammert nicht, Ihr habt doch alles.' Aber wir gingen zum örtlichen Gesundheitsamt und sagten, wir würden uns an Premier Mischustin wenden. Nach zwei, drei Tagen kamen Anzüge, aber ohne Gebrauchsanleitung. Sie sahen aus wie Overalls für Lackierer. Das war das einzige, was sie auftreiben konnten. Atemschutzmasken bekamen wir keine. Ich weiß, dass es Ärzte gibt, die Angst haben, sich zu beschweren. Die Ärzte im Krankenhaus fragen uns fast mit Tränen in den Augen: 'Wie habt Ihr all diese Schutzausrüstung bekommen?' Man darf seine Probleme eben nicht herabspielen. Man muss sich zusammentun, die Anordnungen studieren und einfordern, was einem zusteht.

Bau eines temporären Krankenhauses für Corona-Patienten in MoskauBild: Reuters/Moscow News Agency/D. Voronin

Was die Patienten angeht, so heißt es bei jedem Einsatz, die Leute sitzen ohne Geld zu Hause, essen trockenes Brot und sollen den Ärzten auch noch etwas extra bezahlen. Aber man bekommt gar kein Geld: Es gibt die offizielle Anweisung, dass es Zeitzuschläge nur bei Grippe- oder COVID-Patienten gibt. Wir haben ausgerechnet, dass es ungefähr 78 Rubel (0,96 Euro) pro Stunde sind. Dabei hatte Putin das so laut im Fernsehen verkündet, in Wirklichkeit sind wir tief gefallen. Am liebsten würde man sagen: 'Erstickt doch an Euren 78 Rubel.' Besser wäre es, man entnähme Abstriche und würde uns mit einem CT ausstatten."

Wladimir Perluchin, Krankenhausarzt in der Region Brjansk:

"Seit 28 Jahren behandele ich Lungenentzündungen. Der erste COVID-19-Patient in unserer Region war ein Mann. Seine Tochter war zu ihm aus Moskau gekommen, um mit ihm ihren Geburtstag zu feiern. Doch er verheimlichte dies und im Krankenhaus konnte das niemand ahnen. Der Mann wurde einfach mit einer Lungenentzündung aufgenommen. Erst wollte man gar keinen Corona-Test machen. Doch ich bestand darauf. Während wir auf das Ergebnis warteten, lag der Patient in einem normalen Raum, durch den Ärzte aus allen Abteilungen, sogar die Buchhalter laufen. Das waren mindestens 100 Kontakte.

Moskaus Bürgermeister Sergei Sobyanin (Mitte rechts) besucht ein neues Krankenhaus für Infektionskrankheiten außerhalb der HauptstadtBild: picture-alliance/AP/Mayor Press Service/D. Grishkin

Zwei Tage später wurde das Coronavirus bestätigt und der Patient wurde nach Brjansk gebracht. Die Verwaltung überlegte, was sie mit dem Krankenhaus tun sollte, und kam auf die Idee, mich als den behandelnden Arzt und die Reinigungskraft, die den Boden im Raum des Infizierten gewaschen hatte, im Krankenhaus unter Quarantäne zu stellen, weil wir angeblich den engsten Kontakt zu ihm hatten. Das restliche Personal wurde nach Hause geschickt. Eigentlich wurden wir gewaltsam unserer Freiheit beraubt. Ich habe mich bereits an die Staatsanwaltschaft gewandt.

In jener Abteilung, die nach dem Patienten nicht desinfiziert wurde, verbrachte ich mit der Frau zwei Tage. Zum Schlafen war es zu kalt und es gab kein heißes Wasser. Wir bekamen auch kein Essen. Ein Heizgerät und Lebensmittel brachten uns Kollegen aus einer Privatklinik in Brjansk. Die Polizei kam und fotografierte uns durchs Fenster. So kontrollierte sie, ob wir nicht gegen die Quarantäne verstoßen. Als ich davon genug hatte, nahm ich eine Videobotschaft auf und trat in einen Hungerstreik. Erst dann durften wir raus. Der Corona-Test fiel bei mir negativ aus und jetzt bin ich zu Hause in Quarantäne. Wahrscheinlich wird man mich nach all dem entlassen."

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