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Politik

Deutschland stolpert in "neue Normalität"

Kay-Alexander Scholz
1. Mai 2020

Bislang ist Deutschland - international gesehen - vergleichsweise glimpflich durch die Coronavirus-Pandemie gekommen. Jetzt lauern neue Herausforderungen - für Bürger, Kommunen und die Politik.

Coronavirus Cottbus - Musiker musizieren für Krankenhauspatienten
Bild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

"Wir haben im Moment großes Glück", sagt Jan Gloßmann, "der Virus hat uns weitestgehend verschont". Gloßmann ist Sprecher der Stadt Cottbus, einer 100.000-Einwohner-Stadt anderthalb Stunden von Berlin entfernt. Bislang gab es hier nur drei Dutzend bestätigte Infektionen mit COVID-19. Davon sind inzwischen fast alle wieder genesen; gestorben ist niemand. Seit mehr als zwei Wochen kann Gloßmann "keine neuen Fälle!" vermelden.

Welche Erklärungen gibt es? Weil es nur wenige Infizierte gab, seien alle Infektionsketten zurückverfolgbar gewesen, so Gloßmann. Im städtischen Klinikum seien zudem schon früh und viele Corona-Tests durchgeführt worden. Auch hätten die Cottbusser die Restriktionen schnell und diszipliniert angenommen, sich eingeschränkt, Abstand gehalten und auf Hygiene geachtet. "Die Polizei musste nur sehr selten Verstöße ahnden." Wohl auch deshalb sei derzeit die Pandemie in Cottbus medizinisch gesehen beherrschbar.

Alles ruhig in Cottbus, auch in Sachen CoronaBild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

Neue Normalität

Cottbus ist nah dran an dem, was Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und die Experten vom Robert Koch-Institut (RKI) "neue Normalität" nennen. Sie meinen damit: beherrschbare Fallzahlen und damit die Fähigkeit, frühzeitig neue Infektionsketten zu unterbrechen. Plus Achtsamkeit und Vorsicht in der Bevölkerung, damit das Virus weniger Chancen hat, sich zu verbreiten.

Alle Kommunen in Deutschland stehen vor der Aufgabe, in eine "neue Normalität" hineinzufinden. In Cottbus läuft dieser Übergang bereits.

Neue Rivalitäten

Doch es lauern neue Herausforderungen, warnt Stephan Grünewald, Psychologe und Geschäftsführer des renommierten Rheingold-Instituts für Markt- und Medienforschung: Dem disziplinierten Einhalten der "sozialen Fastenzeit" folge nun eine Phase zunehmender Polarisierung.

Angefeuert von der Debatte darüber, an welchen Stellen es für welche sozialen Gruppen oder wirtschaftlichen Einheiten bald Lockerungen der Einschränkungen geben soll, rivalisierten Bundesländer, Branchen und Bürger nun wieder miteinander.

Zuerst sei die Viruskrise ein großer Gleichmacher gewesen. "Alle waren dem gleichen Schicksal unterworfen", erklärt Grünewald. Jetzt aber zeigten sich Gewinner und Verlierer der Krise. Erste Ergebnisse dazu liefere eine Studie des Instituts, die noch in Arbeit sei.

Stephan Grünewald berät auch die Landesregierung NRWBild: Maya Claussen

Die einen wollten raus aus dem "Lockdown", weil sie sich gerade wie in der "Vorhölle" fühlten - zum Beispiel in einer zu kleinen Wohnung zwischen Kindern im Fernunterricht und einer digital verdichteten Arbeitswelt im Homeoffice. Andere, wie Liebespaare, freuten sich gerade über ein sehr "dynamisches Sexleben und gemütliche Stunden auf dem Sofa" und hätten sich ein "paradiesisches Idyll gezimmert". Das sie nun ungern wieder verließen.

Neue Aufgaben

Die Politiker müssten nun wieder Einigkeit und Gemeinsinn schaffen - und nicht noch selbst die Polarisierung befeuern. "Die Ministerpräsidenten der Bundesländer müssen raus aus ihrer Öffnungskonkurrenz und klare Zielvorgaben entwickeln", fordert Grünewald, der derzeit auch die Regierung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen berät.

Auch die Politiker tun sich manchmal schwer mit der "neuen Normalität"Bild: picture-alliance/dpa

Am besten wäre es nach Meinung des Psychologen, wenn diese Zielvorgaben alle drei Wochen kämen. Denn "seelisch" könne der Mensch nur den Zeitraum einiger Wochen "ermessen". Danach brauche es immer wieder eine neue Perspektive.

Klar zu kommunizieren sei auch, dass für eine neue Normalität "viel persönliches Verantwortungsgefühl gefordert ist und jeder sich an die Spielregeln halten muss". Die Menschen dürften nicht glauben, sie seien wieder in der "alten Normalität" vor Corona.

"Fluch der guten Tat"

In Cottbus sieht man das ähnlich. Manche Bürger hätten inzwischen Schwierigkeiten mit einer manchmal verwirrenden Debatte über die richtigen Maßnahmen, berichtet Stadtsprecher Gloßmann. Wenn der Weltärztepräsident sage, Masken seien Humbug, dann aber eine Maskenpflicht verordnet werde, sei das "schwierig zu kommunizieren".

Geben den Ton vor in der Corona-Krise: RKI-Präsident Wieler und Gesundheitsminister Spahn Bild: picture-alliance/dpa/AFP/J. Macdougall

Schwierig zu vermitteln sei auch, dass in dem einen Bundesland manches gehe, was anderswo nicht erlaubt sei. Gehe es vielleicht nur um die "Eitelkeiten bestimmter Politiker"?

Für den Weg in die "neue Normalität" sieht Gloßmann ein weiteres Hindernis - den Erfolg der Präventionsmaßnahmen. Er nennt es den "Fluch der guten Tat": "Wir haben im Grunde zu gute Zahlen, als dass die Leute Angst haben." Es mache sich eher die Stimmung breit: "Es ist ja nix!" Da könne man dann noch so oft von einer Dunkelziffer reden.

Den "Lockdown" schnell wieder zu verlassen, hielten auch viele Cottbusser Stadtverordnete für falsch. Vielmehr müsse man lernen, mit Einschränkungen zu leben. Für die Kommunalpolitiker konkret heißt das, so berichtet Gloßmann, dass ihre Sitzungen in Gebäuden mit mehr Platz stattfinden - wie der Stadthalle. Oder dass jeder aus hygienischen Gründen seinen eigenen Schreibstift mitbringt. Die Cottbusser wollten sachte vorgehen. "In der Hoffnung, dass wir vielleicht insgesamt weitgehend verschont bleiben."

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