1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Corona-Krise fordert Demokratien heraus

Grzegorz Szymanowski
29. März 2020

Die Corona-Pandemie bedroht nicht nur die Gesundheit. Ein dauerhafter Krisenmodus kann auch die offene Gesellschaft verändern. Im Ausnahmezustand werden die Weichen gestellt für die Welt nach Corona.

BdT - Reichstagsgebäude am Abend
Bild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

Martin Voss hat dieser Tage alle Hände voll zu tun. Der Soziologe leitet – nun aus dem Home Office – die Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin. In der Corona-Krise berät er Hilfsorganisationen, führt Umfragen durch, bietet Informations-Webinare an. Die Expertise der Katastrophenforscher ist gefragt. So sehr, dass er sogar ehemalige Mitarbeiter reaktivieren muss. "Trotzdem", versichert Voss, "hätte ich mir das definitiv nicht gewünscht".

Die Bedrohung durch den Virus, die tiefen Eingriffe in den Alltag, die ökonomischen Schwierigkeiten – all das macht die Corona-Krise in Deutschland zur größten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber Martin Voss macht noch auf ein anderes Merkmal zur Einschätzung einer Katastrophe aufmerksam: Nämlich wie stark die außergewöhnlichen Ereignisse eine Gesellschaft verändern. "Rückblickend werden wir stark zwischen der Zeit vor und nach Corona unterscheiden müssen", sagt der Soziologe voraus.

Der Druck wird steigen

Randale, Übergriffe, Mangelsituationen – das sind düsteren Katastrophenszenarien. Dass sie in Deutschland bislang nicht eingetreten sind, macht den Berliner Katastrophenforscher verhalten optimistisch: "Wir gehen mit einem starken sozialen Band in die Krise”. Auch weil politischer Streit ausbleibt und die Maßnahmen gemeinschaftlich getragen werden.

Katastrophenforscher Martin VossBild: privat

Doch mit der Zeit wird der Druck steigen, werden die Reaktionen emotionaler, erwartet Voss. Zum Beispiel wenn Güter wie Medizin verteilt werden müssten und man selbst nicht an erster Stelle bedacht werde. "Viele, die sich schon immer ungerecht behandelt fühlten, werden dies nun noch verstärkt empfinden. Andere, die sich für rundherum abgesichert hielten, könnten das Gefühl haben, ins Bodenlose zu fallen”. Voss sagt tiefe Erschütterungen voraus – und in der Folge ein Umdenken von gesellschaftlichen Normen und Werten.

Mit diesen Veränderungen beschäftigen sich derzeit Experten in aller Welt. "Notfälle spulen historische Prozesse vor", schreibt etwa der israelische Historiker Yuval Noah Harari. In den USA warnt die Autorin Naomi Klein vor einem "Corona-Kapitalismus", der Sozialleistungen weiter einschränken könne. In der EU erwartet der bulgarische Politologe Ivan Krastev eine weitere Stärkung der Nationalstaaten gegenüber Brüssel.

Lernen von China?
Absagen von Großveranstaltungen wie Fußballspielen oder Messen, Ausgangssperren, Kontaktverbote - noch vor einigen Wochen wären sie in Europa unvorstellbar gewesen. Gerade in Deutschland, wo die Erinnerung an die Schrecken des NS-Totalitarismus das liberale Selbstverständnis des Landes nach 1945 geprägt hat.

Vor wenigen Tagen bereitete Bundeskanzlerin Merkel die Deutschen in einer außergewöhnlichen Fernsehansprache auf die gesellschaftlichen Herausforderungen vorBild: picture-alliance/dpa/Bundesregierung/S. Kugler

Doch je weiter die Krise in Europa um sich greift, desto stärker orientierten sich auch westliche Regierungen an den Methoden aus China. Dort wurde vor zwei Monaten über die ganze Provinz Hubei mit fast 60 Millionen Einwohnern eine Ausgangssperre verhängt. "Weil die Chinesen so massiv angegriffen haben und wir in der glücklichen Position waren, positive Effekte auf die Ausbreitung des Virus dort zu beobachten”, begründet Martin Voss das Interesse an Pekings Vorgehen. Der Erfolg Chinas habe den internationalen Druck für radikale Maßnahmen erhöht - und diese Methoden auch in liberalen Gesellschaften möglich gemacht.

Regierungen ergreifen die Zügel

Ob demokratische Prinzipien im Krisenmodus gefährdet werden? "Es hängt viel davon ab, wie lange diese Krise und die Einschränkung von Grundfreiheiten andauert”, antwortet Wolfgang Merkel. Der Politikwissenschaftler ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin.

Politikwissenschaftler Wolfgang MerkelBild: picture-alliance/Pixsell/G. Stanzl

Zwei mögliche Szenarien machen Merkel besondere Sorgen. Bei dem einen gelingt es den Regierungen nicht, die Krise einzudämmen; die Opferzahlen steigen; das Vertrauen der Bürger erodiert. Bei dem anderen regieren die Eliten mit Notstandsverordnungen "quasi autoritär durch” - und sind dabei erfolgreich: "Es könnte sein, dass viele danach sagen: wir brauchen doch diese Parlamente nicht”, befürchtet Merkel.

Die reale Gefahr der Pandemie kann zudem von Regierungen als Vorwand benutzt werden, um die eigene Macht zu erweitern. Wie etwa in Ungarn, wo Premierminister Viktor Orban versucht für sich das Recht auf Regieren per Dekret vom Parlament absegnen zu lassen. Er könnte damit im Alleingang bestehende Gesetze aussetzen und den Notstand unbegrenzt verlängern.

Umstrittener Umgang mit mobilen Daten

Zu den umstrittenen Mitteln im Kampf gegen den Coronavirus gehört die Nutzung von Mobilfunkdaten. "Die Pandemie trifft uns in der Zeit der Digitalisierung", sagt Soziologe Martin Voss. Dafür gebe es keine historischen Erfahrungen. In immer mehr Ländern werden Handydaten an Regierungen und Gesundheitsbehörden weitergegeben. Spezielle Apps prüfen die Einhaltung von Quarantäne.

Auch in Deutschland hatte Gesundheitsminister Jens Spahn eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes geplant. Per Handyortung sollten Kontaktpersonen von Infizierten identifiziert werden. Nach heftiger Kritik hat Spahn den Gesetzentwurf wieder zurückgezogen, vorerst. Sollten die Infizierten-Zahlen weiter steigen, könnte die Abwägung zwischen Freiheitsrechten und Gesundheitsschutz anders ausfallen.

Die Bundestag debattiert ein milliardenschweres Hilfspaket, um die Corona-Folgen und letztlich auch den gesellschaftlichen Schaden zu mindern - um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, bleiben jeweils zwei Plätze zwischen den Abgeordneten frei Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Martin Voss betrachtet diese Entwicklung mit Sorge und beschreibt die Frage, die sich in der Krise den Kritikern stellt: "Soll man den Finger erheben und sagen `das geht aber nicht´? Oder lässt man zu, dass die Situation fast jedes Maß und jedes Mittel rechtfertigt?”.

Von Untertanen wieder zu Bürgern

Der Politikwissenschaftler Merkel macht sich in der Krise auch Sorgen um Europa. Dass viele EU-Länder ihre Grenzen im Alleingang geschlossen haben, hält er für symptomatisch. Wolfgang Merkel wünschte sich mehr Krisen-Koordination in Brüssel. "Eine der negativen Konsequenzen der Krise wird die Fortsetzung der Desintegration der Europäischen Union sein, die wir schon bei der Migrationskrise 2015 gesehen haben”, erwartet Merkel. 

Diskussionen über die Geltung von Bürgerrechten in Zeiten der Krise sind schwierig. Man kann schließlich erst im Nachhinein beurteilen, welche Maßnahmen wirken - und welche unerwünschte, demokratiefeindliche Nebenwirkungen haben.

Deswegen fordert Wolfgang Merkel die Bürger zu Wachsamkeit auf: Wenn der Höhepunkt der Krise überwunden sein wird, müssen die auf die Wiederherstellung der Grundrechte drängen, mahnt er. Der Notstand habe die Bürger zu Untertanen gemacht. Wenn der überstanden ist, müssten sie wieder zu Bürgern werden.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen