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Gesellschaft

Pflegekräfte fordern mehr als Applaus

Grzegorz Szymanowski
2. April 2020

Seit Jahren fordern Pflegefachkräfte mehr Geld. In der Corona-Epidemie werden sie plötzlich bemerkt - und vom Balkon beklatscht. Doch wird sich die Bevölkerung an ihre Probleme erinnern, wenn die Krise vorbei ist?

Coronavirus Krankenschwester Klinikum Schwerin
Bild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

"Es erinnerte an einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst", berichtet der 27-jährige Jan Peters (Name geändert) über die Arbeit als ausgebildeter Krankenpfleger in einem westdeutschen Krankenhaus. Eigentlich sollte er zehn Nachtschichten im Monat arbeiten, doch sein Telefon klingelte viel häufiger, weil Personal fehlte.

Bei ihm schrillten die Alarmglocken, als er nach sechs Nachtschichten in Folge sogar den Geburtstag seiner Mutter verschlief: "Dann dachte ich, ich schaffe das doch keine 30 Jahre lang, wahrscheinlich keine zehn." Jan Peters wechselte auf eine Teilzeitstelle, doch seine Überstunden wurden nicht weniger. Bis er vor sechs Monaten den Job endgültig kündigte.

Plötzliches Interesse

Heute fehlt Peters wie viele andere dem deutschen Gesundheitssystem im Kampf gegen das Coronavirus. Offiziell waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BfA) schon 2018 rund 40.000 Stellen in der Pflege unbesetzt, doch die Dunkelziffer ist viel höher, sagen Experten. Viele Arbeitgeber meldeten sich nicht mehr bei der BfA, weil sich kaum jemand bewerbe.

Der Pflegenotstand ist eine Krise, an die sich viele Deutsche schon gewöhnt haben. Doch die Corona-Epidemie rüttelte sie plötzlich wach. Politiker nennen Pflegekräfte jetzt "systemrelevant". Die Bevölkerung beklatscht sie abends von ihren Balkonen. Aber für viele, die in der Pflege arbeiten, kommt all das zu spät.

"Wir werden jetzt als "systemrelevant" bezeichnet, aber das waren wir schon immer," sagt Nora Wehrstedt. Sie ist 29 Jahre alt und arbeitet als Krankenpflegerin im Städtischen Klinikum Braunschweig: "Ich finde das zwar nett, daß für uns geklatscht wird, aber unsere Miete können wir davon nicht bezahlen." Neben ihrer Arbeit im Schichtdienst ist sie auch Vizepräsidentin der Pflegekammer Niedersachsen. "Wertschätzung und Anerkennung sind wichtig, aber wir brauchen sie auch, wenn wir um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen", sagt sie.

Krankenpflegerin Nora Wehrstedt wünscht sich mehr Wertschätzung für die PflegeBild: Filip Romanovskij

Fehlende Schutzausrüstung

Seit langem fordern Pflegerinnen und Pfleger bessere Löhne und mehr Personal. In der Coronakrise fehlt ihnen wichtiges Schutzmaterial, vielerorts gibt es nicht genug Atemschutzmasken. "Wenn wir nicht aufpassen und das Pflegepersonal jetzt nicht stärken, dann werden nach der Pandemie noch mehr Kollegen aus dem Beruf aussteigen", warnt Wehrstedt. Man merke es sich, wenn Wertschätzung und Schutzmaterial fehlen.

Im Internet sorgt derzeit eine Petition an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für Aufsehen. Besserer Schutz und Lohnsteigerungen für Pflegekräfte werden gefordert, 350.000 Menschen haben sie bis Ende März unterschrieben. Rechtliche Folgen hat die Petition nicht, aber sie zeigt: Viele haben jetzt ein offenes Ohr für die Stimme der Pflegekräfte. "Wir merken, wie sich der Blick auf uns ändert. Die Menschen sagen: Seid fordernd, ihr habt das Recht auf gute Entlohnung und Schutz", sagt Yvonne Falckner. Die Krankenpflegerin aus Berlin hat die Petition mit initiiert.

Viele Pflegekräfte fühlten sich im Stich gelassen, als es zu Engpässen bei der Versorgung mit Schutzkleidung kamBild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Wie das Gesundheitsministerium mitteilte, wurden mittlerweile 20 Millionen zusätzliche Schutzmasken und 15 Millionen Handschuhe geliefert. Insgesamt drei Milliarden Euro seien für weitere Beschaffungen von Schutzausrüstung im Haushalt eingeplant.

Verlorenes Vertrauen

Die Probleme der Pflege erinnern an einen Teufelskreis. Weil Personal fehlt, werden andere Pflegekräfte überbelastet. Wenn sie kündigen, verschärft sich der Mangel. "Viele Auszubildende steigen schon im ersten Jahr aus, wenn sie die Arbeitsbedingungen miterleben", sagt Johanna Knüppel, Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe.

Die Personalknappheit hat sich in den vergangenen Jahren verschärft. Während 2011 noch 36 Prozent der Krankenhäuser Probleme mit der Besetzung von Pflegestellen hatten, waren es im letzten Jahr schon 78 Prozent, das zeigt eine Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts. Pflegepersonal fehlt in fast allen untersuchten Krankenhäuser, die mehr als 600 Betten haben.

Noch schwieriger ist die Situation in den Pflegeheimen, wo durchschnittlich auch schlechter bezahlt wird. 120.000 Pflegekräfte seien zusätzlich nötig, stellten kürzlich Experten der Universität Bremen in einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium fest.

Irgendwo geht immer eine Klingel: In Pflegeheimen fehlen besonders viele Fachkräfte, sagen ExpertenBild: DW/A. Grunau

Das Ministerium plant nun, die Zahl der Auszubildenden zu erhöhen, ein Mindestlohn von 15 Euro wurde kürzlich verabschiedet. Um den Personalmangel zu beheben, wurden vor zwei Jahren Untergrenzen für das Pflegepersonal auf bestimmten Stationen eingeführt. Doch es fehlen so viele Pflegekräfte, dass die Untergrenzen in der Coronakrise wieder aufgehoben werden mussten.

Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe sieht das steigende Interesse der Politik, vermisst aber schnelle Lösungen: "Die Pflege war viel zu lange vernachlässigt. Es wird Jahre brauchen, bis die professionell Pflegenden wieder Vertrauen in das System gewinnen".

Die richtige Zeit für Forderungen

Deswegen wollen Pflegekräfte in der Krise auch eine bessere Bezahlung durchsetzen. Die Pflegekammer Niedersachsen nannte 15 Euro Mindestlohn "einen Witz" und fordert einen Bruttolohn von 4000 Euro. Ähnlich sehen das die Initiatoren der Online-Petition an Gesundheitsminister Spahn. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verdienen derzeit ausgebildete Krankenpfleger an Krankenhäusern im Durchschnitt 3502 Euro und Altenpfleger 3116 Euro im Monat. Die Gewerkschaft Verdi fordert nun zusätzlich eine Gefahrenzulage in Höhe von 500 Euro im Monat.

Auch in der Politik scheint die Bereitschaft zu wachsen, mehr Geld in die Pflege zu investieren. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil nannte die neuen Mindestlöhne zu niedrig und forderte in der ARD Tarifverträge für alle Pflegekräfte. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Karl Lauterbach, findet es "angemessen, jetzt im Rahmen der noch laufenden Krise einen Zuschlag auszuhandeln, der dauerhaft für diese Berufe zu bezahlen ist", sagte er der DW. "Damit könnte es auch gelingen, aus dem Beruf ausgeschiedene Pflegekräfte zurückzugewinnen."

Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPDBild: Reuters/W. Rattay

Lauterbach findet es die richtige Zeit, um über Geld zu sprechen: "Sonst erinnert sich nach der Krise kein Mensch mehr daran", weil wirtschaftliche Schwierigkeiten zu erwarten seien. Auch Krankenschwester Yvonne Falckner weist Kritik zurück, es sei nicht der richtige Moment für Geldforderungen: "Es bringt nichts, wenn man uns auf später vertröstet Wann ist dieses 'später'?"

Aus Erfahrung skeptisch

Wird das Interesse für die Situation der Pflegekräfte auch nach der Krise anhalten? "Menschen klatschen jetzt von Balkonen, weil sie Angst davor haben, selbst krank zu werden", sagt Sozialwissenschaftlerin Barbara Thiessen, Professorin an der Hochschule Landshut: "Und dann sehen sie, dass es da andere gibt, die sich dem Risiko aussetzen und in den Kliniken bleiben und arbeiten." Applaus sei in dieser Situation eine "absolut verständliche" Reaktion, aber vor dem Hintergrund der schlechten Arbeitsbedingungen "auch zynisch".

Applaus für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Doch bekommen sie auch nach der Coronakrise Unterstützung?Bild: picture-alliance/dpa/O. Berg

"Jetzt bekommen sie Beifall und vielleicht sogar eine steuerfreie Prämie. Aber wenn sich danach die Arbeitsbedingungen nicht ändern, das wäre ein Schlag ins Gesicht", sagt Thiessen. Sie bezweifelt, dass die Pflegekräfte auch nach der Krise die nötige Unterstützung bekommen.

Krankenpflegerin Nora Wehrstedt bemerkt, dass sich die Einstellung in der Bevölkerung ändert: "Vorher wurde Pflege oft nicht wertgeschätzt und auf Ausscheidungen, Essen anreichen und Waschen reduziert." Nun merke man, dass die Pflege viel mehr bedeute. Doch Pflegefachkräfte seien "aus der Vergangenheit heraus skeptisch, was nachhaltige Veränderungen angeht", sagt sie: "Schon vieles wurde uns versprochen, aber wenig davon umgesetzt."

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