Notärzte warnen vor Triage in Deutschland
22. November 2021Angesichts der rasant gestiegenen Corona-Infektionszahlen sind viele Klinken in Deutschland bereits an ihre Kapazitätsgrenze gekommen, weil Intensivbetten und vor allem das nötige Pflegepersonal fehlen.
Das zeigt sehr deutlich das sogenannte DIVI-Intensivregister, das von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zusammen mit dem Robert-Koch-Institut (RKI) betrieben wird. In den mehr als 1200 Krankenhäusern in Deutschland gibt es 19.373 Intensivbetten, aber davon verfügen nur rund 7145 über eine hohe Versorgungsstufe (High Care), sprich: Nur hier können Patienten invasiv beatmet werden.
Aktuell werden laut DIVI-Intensivrigister 3845 COVID-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt. Davon müssen 1968 invasiv beatmet werden. In den vergangenen 24 Stunden wurden 292 neue Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen aufgenommen. Damit stehen nur noch 1757 High Care-Intensivbetten zur Verfügung - allerdings in ganz Deutschland.
"Triage-Situation ist akut"
Es gibt also noch freie Intensivbetten, aber eben nicht in einigen Regionen wie etwa in Bayern, in Thüringen und in Sachsen, wo die Infektionszahlen besonders hoch sind.
In Sachsen droht nach Auskunft des Präsidenten der sächsischen Landesärztekammer, Erik Bodendieck, schon in den nächsten Tagen eine Überlastung der Intensivstationen. Es sei schon bald damit zu rechnen, dass in bestimmten Regionen des Bundeslandes zwei Patienten um ein Bett konkurrieren müssten, sagte Bodendieck im Deutschlandfunk.
Dann drohe eine Triage-Situation: Wer dann eine bessere Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung habe, werde bevorzugt. Ungeimpfte hätten dabei die schlechteren Überlebenschancen.
Horrorbegriff Triage
Die sogenannte Triage bezeichnet die ärztliche Entscheidung, welche Patienten bei knappen Behandlungskapazitäten aufgrund der Schwere ihrer Fälle oder anderer Faktoren zuerst behandelt werden oder keine Intensivbehandlung bekommen. Bisher konnte Deutschland während der Corona-Pandemie auf das Triage-System weitgehend verzichten.
Grundsätzlich ist in Deutschland jeder Patient gleich viel wert. Wer behandelt werden muss, wird in ein Krankenhaus aufgenommen. In Ausnahmefällen aber, wie bei Naturkatastrophen oder eben bei einer Pandemie, kann ein Szenario eintreten, in dem die Krankenhäuser komplett überlastet sind. In dieser Ausnahmesituation müssen Ärztinnen und Ärzte abwägen, wer die besten Heilungschancen hat, damit so viele Menschen wie möglich gerettet werden.
Gibt es längst eine "weiche Triage"?
Weil nicht geimpfte COVID-19-Patienten Intensivbetten belegen, können andere Notfallpatienten in den Hochinzidenzgebieten nicht adäquat versorgt werden, argumentieren Mediziner. "Wir haben schon heute eine weiche Triage, die zum Beispiel dann eintritt, wenn ein Herzinfarktpatient eine Stunde im Rettungswagen herumgefahren wird, der kein Krankenhaus mit einem freien Intensivbett findet", sagt der Direktor der Klinik I für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln, Michael Hallek. "Das führt zu einer Verschlechterung der Versorgung. Diese Situation ist im Süden und Osten von Deutschland bereits eingetreten."
Auch der Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Stefan Kluge, spricht von einer "latenten Triage". Dabei könne ein Krankenhaus einen Schlaganfallpatienten nicht mehr aufnehmen oder einen Patienten mit einer akuten Leukämie. "Genau das findet schon statt", sagt der Intensivmediziner.
"Es ist aber unglaublich schwer zu entscheiden, welche Operationen verschoben werden sollen und welche nicht", so Kluge. "Und dabei geht es nicht um Hüftoperationen, sondern zum Beispiel um dringende Gefäßoperationen, bei denen ein ein Blutgefäß platzen könnte."
Aber wer entscheidet auf Grundlage welcher Kriterien?
In Deutschland gibt es kein Triage-Gesetz, das explizit regelt, wie Ärztinnen und Ärzte in Notfallsituation über Leben und Tod entscheiden müssen.
Erst im März 2020 haben sieben medizinische Fachgesellschaften entsprechende Handlungsempfehlungen für die Triage in Corona-Zeiten erarbeitet. Sie sollen die Entscheidung erleichtern und möglichst einheitliche, ethische Standards setzen.
"Die Priorisierungen erfolgen dabei ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern mit der Zielsetzung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen."
Höhere Überlebenswahrscheinlichkeit entscheidet
Wenn es hart auf hart kommt, müssen die Ärzte allein nach den klinischen Erfolgsaussichten entscheiden. Ausschlaggebend sind der allgemeine Gesundheitsstatus, die Schwere der akuten Erkrankung, wie hoch der Sauerstoffgehalt im Blut ist oder ob der Patient Vorerkrankungen wie zum Beispiel eine weit fortgeschrittene Nieren- oder Krebserkrankungen beziehungsweise eine ausgeprägte Herzinsuffizienz hat.
Eine weit fortgeschrittene Krebserkrankung oder schwere Leberschäden könnten also dazu führen, niedriger priorisiert zu werden. Ausdrücklich nicht entscheidend sind in Deutschland dagegen das Alter, das Geschlecht, die Nationalität, der soziale Status, die Art der Krankenversicherung, Behinderungen oder nicht relevante Vorerkrankungen wie zum Beispiel Demenz.
Diese schreckliche Entscheidungen über Leben und Tod erfolgt nach dem Mehr-Augen-Prinzip. Wenn möglich sollten zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärzte gemeinsam mit dem Pflegepersonal und anderen Fachleuten beschließen, welche Patienten welche Behandlung bekommen.
Keine Bevorzugung von COVID-19-Patienten
Für die Priorisierung ist entscheidend, dass alle Intensivpatienten einer Klinik gleich betrachtet werden, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Notaufnahme, Intensivstation, Allgemeinstation).
Explizit soll diese Priorisierung nicht nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten erfolgen. Demnach dürfen Corona-Erkrankte auch nicht gegenüber beispielsweise Krebs- oder Schlaganfall-Patienten bevorzugt werden.
Auch die Entscheidung darüber, ob ein geimpfter COVID-Patient gegenüber einem umgeimpften COVID-Patienten zu priorisieren ist, müssen die Ärzte im Einzelfall allein nach den oben genannte klinischen Erfolgsaussichten entscheiden.
Allerdings: "Für ungeimpfte Patientinnen und Patienten in einer COVID-Situation ist das in aller Regel nicht der Fall, dass sie eine COVID-Situation überstehen können", sagte der Präsident der sächsischen Landesärztekammer Bodendieck.