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Politik

Lockdown, Megalockdown, ZeroCovidShutdown?!

15. Januar 2021

Die Corona-Infektionszahlen wollen nicht sinken, die Todeszahlen steigen. Die Kanzlerin will mehr Lockdown, andere halten dagegen. Der Ton wird schärfer, die Nerven liegen blank. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

Deutschland Berlin | Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Bild: John MacDougall/AP Photo/picture alliance

Ratlos, gereizt, hoffend, verzweifelt, nervös, resigniert: Selten war die Lage in Deutschland so widersprüchlich und in weiten Teilen so negativ, wie im elften Monat der Pandemie. Am kommenden Dienstag will sich die Bundeskanzlerin erneut mit den für den Infektionsschutz zuständigen Ministerpräsidenten der Bundesländer zusammenschalten, um über weitere Verschärfungen im Lockdown zu entscheiden. Oder auch dagegen. Denn die Meldung, dass Angela Merkel weitere harte Maßnahmen für acht bis zehn Wochen für nötig hält, hat eine durchaus kontroverse Debatte ausgelöst.

Noch ist unklar, ob auf den Teil-Lockdown im November, den verschärften Lockdown im Dezember und den verlängerten Lockdown im Januar nun der komplette Lockdown im Februar folgt. Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, hat dazu eine klare Meinung: "Diese Maßnahmen, die wir jetzt machen - für mich ist das kein vollständiger Lockdown. Es gibt immer noch zu viele Ausnahmen und es wird nicht stringent durchgeführt."

Was zählt mehr: Infektionsschutz oder Wirtschaft?

Wielers Meinung teilen viele Menschen in den sozialen Netzwerken. #MegaLockdown und #ZeroCovidShutdown lauten Hashtags, unter denen massiv debattiert wird, was schief läuft und was jetzt passieren müsste. Die gemeinsame Stoßrichtung: Wenn alles, also neben Schulen und Kindergärten auch die Unternehmen, alle Geschäfte, Betriebe und der öffentliche Nahverkehr für mehrere Wochen geschlossen würden, alle Menschen zu Hause blieben und auf ihre Kontakte verzichteten, dann könnte das Virus ausgehungert werden.

Doch wie realistisch ist dieses Szenario und welche Opfer müssten dafür gebracht werden? Fakt ist: Die bisherigen Maßnahmen haben die Infektionskurve nicht nachhaltig abgeflacht, die Zahlen sind weit davon entfernt, wieder unter die angestrebte Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen zu sinken.

Das Statistische Bundesamt meldet, dass Ende vergangenen Jahres in Deutschland deutlich mehr Menschen gestorben sindals im Durchschnitt der Vorjahre. In der Woche vor Weihnachten lagen die Sterbefallzahlen um 24 Prozent über dem Mittel.

Das Licht am Ende des Tunnels ist noch weit entfernt

Die Impfungen sind zwar angelaufen, doch der Impfstoff ist zu knapp, um damit in der Pandemiebekämpfung schnelle Erfolge erzielen zu können. Zumal der Impfstofflieferant Pfizer kurzfristig mitteilte, dass er wegen Umbauten seines Werks im belgischen Puurs die bereits zugesagte Liefermenge für die nächsten drei bis vier Wochen nicht erfüllen kann. 

Erschwerend hinzu kommt die in Großbritannien und Irland, aber auch eine in Südafrika nachgewiesene, hoch ansteckende Virus-Mutation. Das lässt die Politiker nervös werden. Wie lange wird der Impfstoff gegen die Mutationen wirksam sein? Wie kann deren Ausbreitung am besten verhindert werden? "Es besteht die Möglichkeit, dass sich die Lage noch verschlimmert", sagt auch RKI-Chef Wieler. 

Alle Augen richten sich nun auf die Wirtschaft. Im ersten Lockdown, im Frühjahr, mussten auch Unternehmen schließen. Die Folge war ein massiver Konjunktureinbruch, der an die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 erinnert. Das soll sich nicht wiederholen. Die Fließbänder laufen, die Unternehmen produzieren, in den Büros wird gearbeitet. In dieser Form könne man den Lockdown sehr lange durchhalten, rechnet Bundesfinanzminister Olaf Scholz vor.

Knackpunkt Homeoffice

Allerdings könnte gerade die Schreibtischarbeit noch viel häufiger als bisher von zu Hause erledigt werden. Die Hälfte aller Arbeitsplätze in Deutschland sind Bürojobs. Eine repräsentative Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat ergeben, dass im ersten Lockdown 27 Prozent der Arbeitnehmer im Homeoffice gewesen sind, im November aber nur 14 Prozent.

Der Bonner Wirtschaftsprofessor Hans-Martin von Gaudecker hat ausgerechnet, dass das Arbeiten von zu Hause einen großen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat. Wenn seit Anfang Oktober nur ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung mehr im Homeoffice gewesen wäre, so das Ergebnis seiner Untersuchung, hätte Deutschland vor Weihnachten etwa sieben Prozent weniger Infektionen gehabt. 

Könnte das die Rettung sein? Auch für die Wirtschaft und damit für die ohnehin gebeutelten Staatsfinanzen?

Aufruf aus dem Schloss Bellevue

Mit einem ungewöhnlichen gemeinsamen Appell gingen am Freitagvormittag der Bundespräsident, der Präsident der Arbeitgeberverbände und der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes gemeinsam an die Öffentlichkeit. "Arbeiten Sie im Homeoffice! Gehen Sie nicht ins Büro, wenn Sie nicht zwingend müssen!", rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier alle Bürger auf, die noch nicht von zu Hause arbeiten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appelliert an die Menschen, dringend zu Hause zu bleibenBild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

"Jede Fahrt zur Arbeit in der S-Bahn oder im Bus, die vermieden werden kann, hilft. Diejenigen, die von zu Hause aus arbeiten können, die sollten es jetzt tun. Spätestens jetzt", so der eindringliche Appell Steinmeiers.

Arbeitgeber knirschen mit den Zähnen

Etwas weniger drängend formulierte es Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Viele Arbeitgeber wehren sich nach wie vor dagegen, ihre Beschäftigten zu Hause arbeiten zu lassen. "Wir wissen, dass Homeoffice für viele Unternehmen eine finanzielle, organisatorische und auch datensicherheitstechnische Belastung darstellt", so Dulger.

DGB-Chef Reiner Hoffmann (li.), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger (re.) Bild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

"Homeoffice in diesem Ausmaß ist eine Ausnahme, die die aktuelle Pandemie erfordert." In den vergangenen Monaten sei viel geleistet worden, um Hygienebestimmungen und Arbeitsschutzkonzepte in den Betrieben einzuhalten. Der Arbeitsplatz sei ein im Vergleich "sicherer Ort", so Dulger. Im Sinne des Infektionsschutzes müssten die Kontakte aber weiter eingeschränkt und die Mobilität verringert werden.

Manche drängen ins Büro zurück

Auch der Gewerkschaftsbund sieht negativen Seiten. Arbeiten im Homeoffice sei eine Anstrengung für viele Menschen, so DGB-Chef Reiner Hoffmann. Tatsächlich gibt es neben vielen Arbeitnehmern, die nur zu gerne von zu Hause arbeiten würden, aber es bislang nicht dürfen oder nicht können, auch viele, die nach Monaten im Homeoffice so schnell wie möglich ins Büro zurückkehren wollen.

Vor allem Alleinstehende halten die Einsamkeit zuhause nicht länger aus. Andere verzweifeln daran, dass Schulen und Kindergärten geschlossen sind und sie zu Hause nicht ungestört arbeiten können. In einer Umfrage des Nachrichtenmagazins Spiegel lehnen 38 Prozent der Befragten, die Kinder haben, eine Pflicht zum Homeoffice ab.

Insgesamt sprachen sich in einer vom Meinungsforschungsinstitut Civey durchgeführten Befragung aber 56 Prozent dafür aus, die Arbeit im Büro grundsätzlich zu verbieten. Dagegen waren 32 Prozent. Mehrheitlich abgelehnt wird eine Corona-bedingte Homeoffice-Pflicht demnach von Befragten, die angaben, die FDP (58 Prozent) beziehungsweise die AfD (63 Prozent) wählen zu wollen. Die Zustimmung zur Homeoffice-Pflicht ist bei den Anhängern der Grünen mit 73 Prozent am höchsten.

Nächster Gipfel: Dienstag, 14 Uhr

Ob und wenn ja, welche Maßnahmen am Dienstag ergriffen werden, wird sich in den nächsten Tagen herauskristallisieren. Eine Pflicht zum Homeoffice soll es laut Regierungssprecher Steffen Seibert zwar nicht geben, aber möglicherweise müssen Arbeitgeber demnächst klarer begründen, warum sie Homeoffice nicht zulassen.

"Zu der Umkehrung haben wir uns noch nicht entschieden, weil wir auch viele gute Beispiele dafür sehen, dass Unternehmen, Betriebe und Behörden Homeoffice breitflächig anbieten", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der letzten Ministerpräsidentenkonferenz in der vergangenen Woche gesagt. Die Betonung lag auf "noch nicht".

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