1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kein Freibrief für die Bundesnotbremse

30. November 2021

Die umstrittenen Ausgangssperren und Schulschließungen in Deutschland waren zulässig – urteilt das Bundesverfassungsgericht. Aus der Begründung lässt sich aber kein Automatismus ableiten.

Deutschland Coronavirus l Nächtliche Ausgangssperre in Köln
Nächtliche Ausgangssperren wegen Corona sind und bleiben umstritten Bild: Mika Volkmann/picture alliance

Deutschland im April 2021: Die Politik ringt um einen gemeinsamen Kurs im Kampf gegen das Corona-Virus. Während vor allem die Bundesregierung auf einen einheitlichen Kurs drängt, gibt es in den 16 Bundesländern oft sehr unterschiedliche Vorstellungen – und Maßnahmen. Nach langem Streit beschließt das Parlament die sogenannte Bundesnotbremse. Mit ihr ist es möglich, deutschlandweit nächtliche Ausgangssperren zu verhängen und Schulen zu schließen.

284 Verfassungsbeschwerden und 21 Eilanträge

Allerdings sind diese in der bundesdeutschen Geschichte beispiellosen Eingriffe in Grundrechte an konkrete Voraussetzungen geknüpft: Ausgangssperren sind erst erlaubt, wenn dem für Pandemie-Bekämpfung zuständigen Robert-Koch-Institut (RKI) an sieben Tagen nacheinander 100 Infizierte pro 100.000 Einwohner gemeldet werden. Für Schulen gilt bei dieser als Sieben-Tage-Inzidenz bezeichneten Statistik die Zahl 165. Außerdem wird die Bundesnotbremse befristet und endet am 30. Juni. Sie wurde seitdem auch nicht verlängert.

Vor diesem Hintergrund sind die beiden jetzt vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe getroffenen Entscheidungen zu sehen: Sie beziehen sich auf die Vergangenheit, enthalten aber auch Anhaltspunkte für den künftigen rechtlichen Umgang mit der Corona-Pandemie. Und die Lage ist mit Blick auf die Infektions- und Todeszahlen weitaus dramatischer als im April. Seitdem wurden gegen die Bundesnotbremse 284 Verfassungsbeschwerden und 21 Eilanträge auf Unterlassung gestellt (Stand: 30. November). Diese Zahlen nannte das Bundesverfassungsgericht auf DW-Anfrage.  

Das Bundesverfassungsgericht verweist auf die besondere Rolle des RKI

In seinen ausführlichen Begründungen für die erfolglosen Klagen verweist das höchste deutsche Gericht auf die Bewertung der Pandemie durch medizinische und naturwissenschaftliche Experten. Dabei räumt es ein, die Einschätzungen zur Gefährdungslage unterschieden sich. Das gilt ebenso für die künftige Entwicklung der Pandemie und die Maßnahmen, um sie einzudämmen. Entscheidend ist jedoch das Fazit: "Die Beurteilung des Gesetzgebers, es habe bei Verabschiedung des Gesetzes eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit sowie die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems bestanden, beruhte auf tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen."

In diesem Zusammenhang wird auf die im Infektionsschutzgesetz beschriebene Rolle des Robert-Koch-Instituts verwiesen: Damit habe der Gesetzgeber dafür Sorge getragen, "dass die zur Beurteilung von Maßnahmen der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten benötigten Informationen erhoben und evaluiert wurden". In Bezug auf Corona sind damit vor allem die täglich aktualisierten und veröffentlichten Zahlen zum Infektionsgeschehen gemeint.

"Uns hat das damals nicht überzeugt und jetzt auch nicht"

Schon vor dem Inkrafttreten der Bundesnotbremse hatte die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ein Gutachten erstellen lassen. Dabei war die Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold von der Universität Flensburg zu einer komplett gegenteiligen Einschätzung gelangt als jetzt das Bundesverfassungsgericht: Ihre Kernbotschaft damals: "Anstatt die Bürgerinnen mit einer nächtlichen Ausgangssperre in ihren Grundrechten zu beschränken, wäre die Regelung des Arbeitslebens weniger invasiv und dabei voraussichtlich ungleich effektiver."

Verfassungsexperte Bijan Moini von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hält Ausgangssperren weiterhin für falschBild: Friedrich Schäfer

Darauf bezieht sich GFF-Experte Bijan Moini im DW-Gespräch. Verfassungsrechtlich könne man die Entscheidung des Gerichts zur Ausgangssperre nachvollziehen, aber: "Uns hat das damals nicht überzeugt und jetzt auch nicht." Das Gericht habe sich an vielen Stellen darauf zurückgezogen, "dass der Bundestag einen weiten Beurteilungsspielraum hat". Aber genau an diesem Punkt könne man unterschiedlicher Meinung sein. "Man muss prüfen, ob es andere Mittel gleicher Wirksamkeit gibt, die milder wirken – also nicht so stark in die Grundrechte eingreifen."

Initiative "Schule bleibt offen" ist halbwegs zufrieden

Trotz seiner Enttäuschung über die Entscheidung und Begründung des Bundesverfassungsgerichtes sieht Bijan Moini hilfreiche Anhaltspunkte für das künftige Vorgehen der Politik. Pauschale Maßnahmen seien nun wohl ausgeschlossen: "Der Gesetzgeber kann jetzt nicht einfach Ausgangssperren verhängen für jeden und alles." Die müssten schon gut begründet sein. Dafür habe das Bundesverfassungsgericht gute Maßstäbe aufgestellt, an denen sich der Gesetzgeber orientieren müsse.

Lernen am Limit - Kinder in der Krise

12:35

This browser does not support the video element.

Für einem "Teilsieg" hält Stefanie Raysz von der Initiative "Schule bleibt offen" die Entscheidung zu den flächendeckenden Schulschließungen. Das Recht der Kinder und Jugendlichen sei gestärkt worden. Chancengleichheit und der Zugang zu Bildung müssten gegeben sein. "Und das ist jetzt einklagbar", sagt sie im DW-Gespräch. Trotzdem sieht die Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern die Gefahr, dass es im Rahmen einer Wiederbelebung der Bundesnotbremse erneut zu Schließungen kommen könnte.

Keine pauschalen Schulschließungen 

Allerdings sind aus ihrer Sicht die vom Bundesverfassungsgericht dafür aufgestellten Hürden recht hoch. Anfang 2021 habe es nicht genügend wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung und Folgen einzelner Maßnahmen gegeben. "Das ist heute anders." Pauschale Schulschließungen seien nicht mehr möglich. Deshalb erwartet Stefanie Raysz, dass künftig nach lokalen und regionalen Gegebenheiten entschieden wird. "Wenn es in irgendeinem Landkreis einen Hotspot gibt, dann kann der für sich ganz anders agieren, als wenn wir das ganze Land zumachen müssen."

Corona und Familie: zu Hause leben, lernen und arbeiten

03:08

This browser does not support the video element.

Die Sprecherin von "Schule bleibt offen" verweist zudem darauf, dass inzwischen viel mehr Menschen geimpft seien. Außerdem gehörten Kinder und Jugendliche zur am wenigsten gefährdeten Bevölkerungsgruppe. Man wisse aber auch, was diese harten Maßnahmen auf lange Sicht bedeuteten, "wenn man an die gravierenden psychosomatischen Folgen für die ganze Gesellschaft denkt".

Der Ruf nach einer erneuten Bundesnotbremse wird immer lauter

Darauf geht auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ein: Die Belastungen der Eltern schulpflichtiger Kinder durch das Verbot von Präsenzunterricht wiege schwer. Dennoch hält es die Schulschließungen auch im Rückblick für verfassungskonform. "Es war offen, ob und wann es gelingen würde, die Dynamik des Infektionsgeschehens durch die Maßnahmen der Bundesnotbremse zu durchbrechen und welche Rolle die Verbreitung neuer Virusvarianten hierbei spielen würde." Die Vorläufigkeit der Bewertung habe sich insbesondere aus der damals beginnenden Impfkampagne ergeben. 

Welche Lehren die Politik aus den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes ziehen wird, ist noch offen. Der Bundestag hat am 18. November mit einer erneuten Änderung des Infektionsschutzgesetzes zugleich das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite beschlossen. Mit diesem Rechtsbegriff war die Bundesnotbremse eng verknüpft. Sie zu reaktivieren verlangen angesichts der sich weiter zuspitzenden Corona-Lage immer mehr Politiker und Mediziner.

 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen