1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
GesellschaftDeutschland

Corona-Protest: Steinmeiers rote Linie

24. Januar 2022

Hass und Gewalt nehmen zu; auf der Straße, im Netz, überall. Im Gespräch mit Betroffenen wirbt der Bundespräsident für mehr Gemeinsinn - und ist beeindruckt von der Zivilcourage seiner Gäste.

Bundespräsident Steinmeier spricht über Hass und Gewalt
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (stehend) spricht mit Gästen über Hass und Gewalt in Zeiten von CoronaBild: Bernd von Jutrczenka/picture alliance/dpa

"Der Spaziergang hat seine Unschuld verloren", sagt der Gastgeber im Berliner Schloss Bellevue am Anfang seiner Gesprächsrunde zum Thema "Hass und Gewalt in Zeiten der Pandemie - Erfahrungen und Reaktionen". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spielt damit auf die als "Spaziergänge" deklarierten Proteste gegen die Corona-Politik in Deutschland an. Die oft unerlaubten Versammlungen finden seit Monaten in vielen Städten statt und verlaufen mal mehr, mal weniger friedlich.

"Wir sind erstmal der Prellbock"

Neben dem Staatsoberhaupt sitzen Menschen, die in ihren Berufen tagtäglich anscheinend immer größer werdenden Frust und hemmungslose Wut zu spüren bekommen: eine Polizistin, ein Arzt, eine Arzthelferin, zwei Kommunalpolitiker, ein Pfarrer. "Wir sind erstmal der Prellbock", sagt Annette Knaup, die als medizinische Fachkraft in einer Paderborner Praxis arbeitet. Diese Erfahrung teilt sie mit den anderen.

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, ergänzt: "Die Gereiztheit ist sehr weit verbreitet und die Schwelle, dass das übergeht in Aggression, ist gesunken." Aber das schlummere schon länger in der Gesellschaft und habe vielleicht auch mit Sozialen Medien und Umgangsformen zu tun, vermutet der Verbandsfunktionär. Er habe auch schon mal Leute aus seiner Praxis verwiesen.    

"Papa, kommen die hoch?"

Wie bedrohlich die Situation mitunter ist, beschreibt André Neumann, Oberbürgermeister in Altenburg (Thüringen): "Da kriegt man halt die E-Mails, dass man am Tag X mit Familie auf dem Markt hängt - und das kriegt die Familie natürlich mit." Zum Beispiel wenn Demonstranten an seinem Haus vorbeiziehen und klingeln. Dann fragt Neumann sechsjähriger Sohn: "Papa, kommen die hoch? Was passiert hier? Was machen die?"

Darf man im Netz alles sagen?

02:37

This browser does not support the video element.

Diese Erlebnisse und Eindrücke bestätigen das, was der Bundespräsident zu Beginn der Veranstaltung sagt, als er einen ungenannten Bürgermeister zitiert: "Wir sind zu Freiwild geworden. Wer tut etwas, um uns zu schützen?" Eine Frage, die wie ein Hilfeschrei klingt. Ein Ruf nach Unterstützung, der nicht unerhört bleibt, wie das von Pfarrer Christian Tiede mitinitiierte Projekt "Bautzen gemeinsam" zeigt.      

Vorbild Bautzen: Die Zivilgesellschaft zeigt Gesicht

Die in Sachsen gelegene Stadt ist schon lange eine Hochburg von Rechtsextremisten, die den Corona-Protest für sich nutzen. Dem stellt sich die Zivilgesellschaft in Form eines Offenen Briefes und öffentlichen Aktionen entgegen. Innerhalb weniger Wochen haben rund 47.000 Menschen die Erklärung unterschrieben. "Das macht für eine Stadtgesellschaft und auch das demokratische Gemeinwesen enorm viel aus", freut sich Tiede über den Erfolg.

Friedlicher Protest in Freiberg (Sachsen) gegen Versammlungen, die unter dem Motto "Spaziergang" stattfinden Bild: Hans Pfeifer/DW

Auch in vielen anderen deutschen Städten regt sich friedlicher Protest gegen die oft gewalttätigen "Spaziergänge". Frank-Walter Steinmeier hat sich extra eine Übersicht erstellen lassen und liest in alphabetischer Reihenfolge die Namen vor: "Bayreuth, Chemnitz, Cottbus, Dresden, Ebersbach…" Am Ende sind es 24 und am Wochenende seien noch welche dazugekommen, sagt der Bundespräsident.  

"Hass und Gewalt sind ein bundesweites Problem"

Ihm ist es ein besonderes Anliegen ist, eines zu betonen: "Hass und Gewalt sind ein bundesweites Problem: Kassel, Köln, Altena, Idar-Oberstein sind keine ostdeutschen Städte." In diesen westdeutschen Städten wurden Menschen von Rechtsextremisten oder mutmaßlichen Corona-Leugnern schwer verletzt oder sogar ermordet. Steinmeier erinnert an den Tod eines jungen Mannes, der im September 2021 von einem Maskenverweigerer in einer Tankstelle in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) erschossen wurde.

Die drei anderen Städtenamen stehen für gezielte Angriffe auf Kommunalpolitiker schon vor Beginn der Corona-Pandemie. Darunter der Mord am Christdemokraten Walter Lübcke in seinem bei Kassel (Hessen) gelegenen Wohnort. "Hass und Gewalt gegen Menschen, die in unserem Land Verantwortung tragen, haben nicht erst in dieser Pandemie ein erschreckendes Ausmaß erreicht", fasst das Staatsoberhaupt eine lange zu beobachtende Entwicklung zusammen.

Die Hemmschwelle sinkt

Undine Weihe kann das bestätigen - die Berliner Polizistin leitet eine sogenannte Einsatzhundertschaft. Demonstrationen, die auch mal gewalttätig seien, habe es schon immer gegeben. "Insofern ist es für uns nicht etwas grundsätzlich Neues." Aber die Anzahl sei deutlich hochgegangen - und auch die der Bürger, "die bereit sind, Gewalt auszuüben". Seit 1991 arbeitet Weihe als Polizistin. Bei Corona-Protesten werde sie sehr oft angegriffen: "getreten, geschlagen, im schlimmsten Fall angespuckt, mit Flaschen beworfen, mit Baumstämmen beworfen - was man eben zu Greifen kriegt."

Polizei-Einsatz bei Corona-Protesten in Ravensburg (Baden-Württemberg)Bild: Felix Kästle/dpa/picture alliance

Bei den sich selbst "Spaziergänger" nennenden Demonstranten nimmt die erfahrene Polizistin einen Verhaltenswandel wahr: "Das sind Bürger und Bürgerinnen, die sich vor ein, zwei Jahren noch sehr gut benehmen konnten." Weihe spricht von einem "Bruch", den sie bei Leuten beobachtet, die sie für "ganz normale Ehepaare" hält. Und die auf einmal dazu neigten, Gewalt anzuwenden. An diesem Punkt endet für Frank-Walter Steinmeier das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit: "Die rote Linie verläuft genau da, wo Gewalt ins Spiel kommt." 

Ein Pfarrer wünscht sich überall "kleine Leuchttürme"

Zum Schluss fragt der Bundespräsident, wie man es schaffen könne, sichtbar werden zu lassen, "dass das öffentliche Geschehen nicht von einer Minderheit dominiert wird"? Die Antwort gibt Pfarrer Tiede, der sich in ganz Deutschland "kleine Leuchttürme" wünscht. Was er darunter versteht, soll in seiner Stadt Bautzen am 28. Januar weithin sichtbar sein. Am zweiten Jahrestag des offiziell ersten Corona-Toten in Deutschland ist abends ein stiller Lichterzug geplant. "Die Kerze steht dabei als ein Symbol für Hoffnung und Zusammenhalt", heißt es in dem Aufruf der Initiative "Bautzen gemeinsam".  

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen