Corona-Frust im Wohnheim: "Kommt keiner"
13. Mai 2021Corona hat ihr Leben völlig verändert: Michaela Iltis und Rolf-Dieter Bärz sind ein Paar. Sie leben im selben Haus, aber sie sehen sich nur noch kurz, meist mit Maske. Stefan Jung war seit über einem Jahr nicht mehr bei seiner Nichte in Köln: "Ich habe Heimweh."
Rita Wingender vermisst ihre Kontakte in der Stadt, außerhalb des Wohnheims. Jörg Jacobs verlor im Herbst seine Mutter, weil sie sich im Altenheim mit COVID-19 infizierte. Er konnte sich nicht mehr verabschieden, bevor sie starb.
Sie alle leben in einer "besonderen Wohnform" für Menschen mit kognitiver Behinderung, im Haus am Quendelberg des katholischen Caritasverbands in Montabaur, einer Kreisstadt im Westen Deutschlands mit 14.000 Einwohnern.
Auf drei Etagen teilen sich je acht Personen eine Wohnküche. Corona vergessen kann hier keiner: Außer bei den Mahlzeiten und im eigenen Zimmer trägt jeder eine FFP2-Maske - genau wie die Betreuer.
Andere tragen keine Masken
Rita Wingender ging vor Corona gerne in die Stadt, Eis essen, Kaffee trinken, Kontakte knüpfen. Sie sagt, wie wichtig es ist, Schutzmasken zu tragen, "damit Leute nicht angesteckt werden". Doch sie beobachtet: "Da sind andere Leute, die keine Masken anhaben."
Vor der Pandemie war sie zwei bis drei Stunden unterwegs, sprach mit vielen Menschen. Heute komme sie oft nach zehn Minuten zurück, berichtet Hausleiter Matthias Dill.
Rita Wingender erzählt von Freizeiten in Holland oder an der polnischen Grenze: "Das ist lange her." Wegen des fehlenden Abstands im Bus sei jetzt nicht mal ein Ausflug in den Wald möglich, sagt Matthias Dill.
"Dass ich nicht raus durfte, war das Schwerste"
Im Wohnheim hat jeder ein Zimmer mit Bad für sich. Stefan Jung sammelt Bücher über historische Personen: Rechenmeister Adam Riese, Ordensfrau und Universalgelehrte Hildegard von Bingen und Buchdruck-Erfinder Johannes Gutenberg. In der Corona-Zeit hat er viel gelesen. Der 63-Jährige interessiert sich für Tischtennis und Fußball, er ist Bayern München-Fan. Samstags schaut er die Sportschau.
Er geht aber auch sehr gerne in die Stadt oder spazieren. "Dass ich nicht raus durfte, war das Schwerste", erinnert sich Stefan Jung an den Beginn der Pandemie: "Am Anfang durfte man nicht raus!"
Von ersten Lockerungen ausgeschlossen
Vom Haus am Quendelberg ist man schnell beim Bäcker, im Supermarkt, in der Fußgängerzone oder einem kleinen Park. Als im März 2020 die Corona-Auflagen griffen, sollten alle im Haus bleiben, berichtet Matthias Dill. Wurden seine Klienten weggesperrt? "Weggesperrt klingt sehr hart, aber es hatte was davon", sagt der Heilerziehungspfleger. Das Personal habe Überzeugungsarbeit leisten müssen, das sei besser gelungen als erwartet.
Schwieriger wurde es, sagt Dill, als die allgemeinen Regeln gelockert wurden: "Unsere Klienten haben aus dem Fenster gesehen, das Leben draußen beginnt wieder, waren aber selbst noch stärker eingeschränkt." Corona-bedingt fiel für sie alles aus: das Projekt mit Besuchshunden ebenso wie Sommerfest, Adventsfeier oder Begegnungen im Park der evangelischen Kirchengemeinde.
Strenge Corona-Regeln wie für Alten- und Pflegeheime
Menschen mit Behinderung in Wohnheimen wurden in der Corona-Krise stark eingeschränkt. Gut 196.000 Personen zählt der Teilhabebericht der Bundesregierung im "stationären Wohnen", fast zwei Drittel mit "geistigen Beeinträchtigungen" (Stand 2017).
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat für solche Einrichtungen dieselben Corona-Schutzregeln empfohlen wie für Alten- und Pflegeheime. Auch Menschen mit Behinderung in Wohnheimen gelten als vulnerabel, als besonders gefährdet im Fall einer COVID-19-Infektion.
Doch das trifft nicht auf alle zu. Erste Studien aus den USA, den Niederlanden und Schweden zeigten, so berichtete das Institut für Teilhabeforschung im Sommer 2020, "dass das Sterberisiko bei einer COVID-19-Infektion generell bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht sehr viel höher ist als in der Gesamtbevölkerung", anders "als bei hochaltrigen Menschen in Altenpflegeheimen".
Die Gleichsetzung bei den Regeln führte dazu, "dass wir starke Schutzmaßnahmen ergreifen mussten, um eine mögliche Infektion zu vermeiden", sagt Hausleiter Matthias Dill. Das sei gelungen. (Zahlen über Ausbrüche in ganz Deutschland konnte das RKI auf DW-Anfrage nicht nennen.)
Bei der Impfung deutlich später dran
Auf die Impfung aber mussten seine Klienten länger warten als Menschen in Pflegeheimen, die Koordination sei "holpriger" gewesen. Ende April erhielten die meisten die erste Impfung. Dill spricht von Klienten, um zu betonen, dass das Personal sich für die Interessen der 24 Bewohner und ihre Selbstbestimmung einsetzen will: "Es ist unsere Aufgabe, die Leute nach draußen zu bringen. Wir müssten uns im Idealfall überflüssig machen."
Alle, die im Haus am Quendelberg wohnen, haben aufgrund kognitiver Beeinträchtigungen, die meist seit frühester Kindheit bestehen (seltener durch spätere Unfälle), rechtliche Betreuer. Das können Eltern und Geschwister sein oder Berufsbetreuer, die für mehr als 20 Personen zuständig sind.
Die Betreuer entscheiden über finanzielle ebenso wie medizinische Fragen: Sie genehmigen die Impfung und das Interview mit der Deutschen Welle.
Die meisten Bewohner arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen in der Umgebung. Als die 2020 wegen Corona geschlossen wurden, machten Betreuer von dort Förder- und Freizeitangebote im Wohnheim. Als die Werkstätten wieder öffneten, sollten auch dort Kontakte reduziert werden. Wer in Montabaur wohnt, muss auch hier arbeiten. Einige mussten die Arbeitsstelle wechseln.
Getrennt von Angehörigen: "Ich habe Sehnsucht"
Wie in Pflegeheimen wurden auch im Wohnheim Besuche stark eingeschränkt. Ganz am Anfang durfte keiner kommen, bis heute müssen sich Besucher anmelden, dürfen nur begrenzte Zeit bleiben und sollen nicht in die Wohngruppen gehen. Für Kontakte per Video-Chat wurde ein Tablet angeschafft, aber manche der älteren Angehörigen sind damit überfordert. Dann bleibt nur das Telefon.
"Mich hat noch keiner besucht", sagt Michaela Iltis traurig: "Ich habe Sehnsucht nach meiner Tante." Die habe sie vor Corona immer besucht. Wenn sie mit ihr telefoniere, sage sie: "Wie geht's Dir? Ich vermisse euch!" Die Trennung sei schwer auszuhalten.
"Wir dürfen einander nicht sehen. Nicht lang"
Unter Corona leidet auch die Beziehung zu ihrem Freund Rolf-Dieter Bärz, berichtet die 51-Jährige. Sie leben auf verschiedenen Etagen: "Er muss oben bleiben, ich unten. Wir dürfen einander nicht sehen." Rolf-Dieter Bärz sieht sie liebevoll an: "Du kommst schon mal hoch." "Aber nicht lang", entgegnet sie. Sie sitze jetzt mehr in ihrem Zimmer, male Mandalas.
Rolf-Dieter Bärz sitzt morgens im gleichen Bus zur Arbeit wie seine Freundin, mit Maske und Abstand. Sie arbeiten aber in verschiedenen Gruppen. "Das ist schwer für ihn", sagt Michaela Iltis und wendet sich an ihren Freund: "Dann siehst Du immer, dass mein Gesicht unten hängt." Sie seien beide traurig, wenn sie sich trennen müssen.
Sohn und Mutter isoliert im Heim
Jörg Jacobs (49) hört ihr aufmerksam zu, sie kennen sich schon von der Schule. Er hat Besuch von seinem Bruder Detlev Jacobs. Vor der Corona-Pandemie hat er mit ihm ihre Mutter besucht, die wegen einer Demenzerkrankung im Pflegeheim lebte. Am Telefon konnte sie sich nicht mehr verständigen.
Im Frühjahr 2020 lebten Sohn und Mutter beide isoliert - im Wohn- beziehungsweise Pflegeheim. Detlev Jacobs hielt den Kontakt zu seinem Bruder, besuchte ihn, sobald das wieder möglich war.
Im Herbst 2020 erkrankte ihre Mutter an COVID-19, sie wurde erneut isoliert. Ihr Zustand verschlechterte sich, sie starb. Nach einem DW-Bericht hat Detlev Jacobs auf Einladung des Bundespräsidenten bei der Trauerfeier für die Verstorbenen in der Corona-Pandemie über seine Mutter gesprochen: "Leider konnte keines ihrer vier Kinder sie auf diesem letzten Weg begleiten. Das war für uns alle sehr traurig."
Er zeigt seinem Bruder das Video seiner Rede, im Hintergrund ist das Foto von Renate Jacobs eingeblendet. "Die Mama", sagt Jörg Jacobs. Detlev Jacobs rief ihn an, als sie starb: "Das war ganz schlimm für Dich, Jörg, als ich das gesagt habe." "Ja", antwortet sein Bruder, "da habe ich geweint". Zu ihrer Beerdigung im Ruhewald konnte er mitkommen.
Corona-Frust und Anfeindungen
Rolf-Dieter Bärz hat zu den Veränderungen durch Corona eine klare Meinung, auch mit Blick auf Besuche: "Beschissen. Kommt keiner." Sein Berufsbetreuer komme nicht mehr, "bis das rum ist ", sagt Bärz. Mit Maske und Desinfektion komme er klar, aber: "Ich habe mir schon die Hände kaputt gemacht." Für die raue Haut hat er jetzt eine Creme aus der Apotheke.
Es gibt aber auch andere Verletzungen. In der Phase, als sie nur im Wohnheim bleiben mussten, habe er sich vor dem Haus auf die Bank gesetzt. Da habe jemand angerufen, dass er rein müsse. "Weißt Du das nicht mehr?", fragt er Michaela Iltis. Sie erinnert sich: "Ja. Was soll der Quatsch?!"
Anfeindungen und spottende Jugendliche gab es schon vor Corona, sagt Birgit Reuter. Sie arbeitet in der Verwaltung im Haus am Quendelberg und zwar sehr gerne, betont sie: wegen des Kontakts zu den Menschen, die hier leben. Schon vor Corona hörte sie verstörende Fragen aus der Bevölkerung: "Warum lasst ihr die Behinderten raus?" Sie kann kaum fassen, wie man so über die Bewohner des Hauses denken und sprechen kann.
Matthias Dill sagt: "Wo wir noch Verbesserungsbedarf sehen, das ist die Barrierefreiheit in den Köpfen." Es gebe viele Berührungsängste, die die Teilhabe und Akzeptanz seiner Klienten in der Gesellschaft behindern: "Wir benötigen Unterstützung der Politik."
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
"Dass das endlich aufhört mit Corona!", sagt Michaela Iltis. Sie freut sich auf das Wiedersehen mit ihrer Tante. Stefan Jung will endlich wieder seine Nichte in Köln besuchen. Seine Eltern und seine Schwester sind tot. "Ich habe Heimweh", seine Stimme kippt. Mehrfach wiederholt er: "Ich muss warten, bis ich zweimal geimpft bin."
"Hoffentlich ist es bald rum", sagt auch Jörg Jacobs. Er möchte wieder zusammen mit anderen in die Stadt ins Café oder mit seiner Familie essen gehen. Gerne würde er auch wieder verreisen. 2019 war er mit einer Gruppe auf Mallorca.
Die Zweitimpfung für den Großteil der Bewohner ist für Ende Mai geplant. Wenn zwei Wochen nach der letzten Impfung endlich alle als vollständig geimpft gelten, dann kann sich auch für sie das Leben wieder normalisieren. Darauf hoffen jetzt alle.