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GesellschaftDeutschland

Corona-Streit: Reifeprüfung der Demokratie

24. Februar 2021

Ist Deutschland in der Pandemie wirklich so zerrissen, wie viele glauben? Die Wertekonflikte nehmen zu, so das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung. Doch das hat auch positive Seiten.

Deutschland Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin
Spannungsfeld Freiheit und Sicherheit: eine Frau mit Merkel-Maske auf einer Corona-Demonstration im Sommer 2020Bild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

"Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl" - schließen sich diese Ziele in der Corona-Pandemie aus oder sind sie miteinander vereinbar? Ein Team der Bertelsmann Stiftung gelangt in seiner jetzt veröffentlichten Studie zu Einsichten, die das oft anzutreffende Bild einer heillos zerstrittenen Gesellschaft infrage stellen. Denn Meinungsunterschiede etwa zur Einschränkung von Freiheitsrechten oder Impfbereitschaft seien zunächst "Ausdruck unserer vielfältigen Gesellschaft".

So sieht es Stephan Vopel, der das Programm "Lebendige Werte" der in Gütersloh im Bundesland Nordrhein-Westfalen ansässigen Stiftung leitet. Wobei er zugleich einräumt, dass solche gegensätzlichen Haltungen den "Eindruck gesellschaftlicher Zerrissenheit" vermittelten. Und Studienleiterin Yasemin El-Menouar ergänzt: "Wir müssen in Zeiten von Corona darauf achten, dass alle großen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren Interessen gehört und in ihren Wertvorstellungen gewürdigt werden."

Yasemin El-Menouar betont die positiven Seiten der Streit-Kultur in Zeiten von CoronaBild: Bodo Marks/dpa/picture alliance

Die Expertin für gesellschaftlichen Zusammenhalt leitet ihre Forderung aus den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage ab, die im November 2020 durchgeführt wurde. Damals hatte in Deutschland gerade der zweite Lockdown begonnen. Seitdem sind drei Monate vergangen und die Debatte über Lockerungen oder schleppende Impfungen wird immer hitziger geführt. Als die Bertelsmann Stiftung fragte, wer sich auf keinen Fall oder eher nicht impfen lassen wolle, lag dieser Wert bei 34 Prozent. Anfang Februar hingegen ermittelten die Meinungsforscher von Infratest dimap für den Deutschlandtrend nur noch eine Ablehnungsquote von 21 Prozent.

Idealisten, Humanisten, Materialisten, Konservative…

Allein dieses Beispiel zeigt, wie wankelmütig die Menschen in der Krise sind und wie schnell die Stimmung umschlagen kann. Darauf muss die Politik reagieren. Dass dabei kontrovers über die Strategien der Pandemiebewältigung gerungen wird, bewerten die Bertelsmann-Forscher grundsätzlich positiv. Die vielfältigen Perspektiven, heißt es in der Studie, "ergänzen sich mit ihrer unterschiedlichen Wertschätzung etwa von Freiheit und Sicherheit sogar".

Wegen Corona: Grenzkontrollen an der deutsch-tschechischen Grenze im Februar 2020 Bild: Ondøej Hájek/CTK/picture alliance

Wenn es um konkrete Maßnahmen geht – Grenzschließungen oder Ausgangssperren – liegen mitunter Welten zwischen Befürwortern und Gegnern. Dann sei Politik gefordert, "dieses Spektrum in den Blick zu nehmen und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen im Umgang mit der Pandemie zu adressieren". In der Studie ist von sieben Wertemilieus die Rede: Idealisten, Humanisten, Materialisten, Beziehungsmenschen, Konservative, Macher und Selbstverwirklicher.

"Demokratische Kultur auch in schwierigen Zeiten pflegen"

Yasemin El-Menouar und ihr Team legen Wert auf einen Aspekt, der banal anmuten mag: Corona fordere Demokratien wie Deutschland auf andere Weise heraus als autoritäre Staaten wie China. Anders als dort gehe es hierzulande auch darum, die demokratische Kultur zu bewahren, "sie auch in schwierigen Zeiten zu pflegen". Und den Gegnern einer offenen Gesellschaft nicht das Feld zu überlassen.

Chinas Corona-Strategie als Vorbild? In der Bertelsmann-Studie wird davon abgeraten (Archivbild aus Wuhan)Bild: ZDF

Aus diesem Grund sei nicht die kontrovers geführte Debatte das Problem, sondern es sei darauf zu achten, "wann diese Debatte kippt". Wann also bestimmte gesellschaftliche Gruppen sich mit ihren legitimen Interessen nicht mehr gehört und mit ihren Wertvorstellungen nicht mehr repräsentiert sähen. "Das zu vermeiden, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, aber genau darauf kommt es an."

Individuelle Freiheiten bewahren

Den politisch Verantwortlichen wird attestiert, bislang im Kern richtig gehandelt zu haben. Um Infektionen einzudämmen, hätten fundamentale Grundrechte eingeschränkt werden müssen. "Das ist mit Bezug auf das hohe Gut des Lebensschutzes begründbar und somit am Gedanken des Gemeinwohls orientiert." Allerdings seien gerade die individuellen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat eine Errungenschaft der liberalen Demokratie, "die auch in Krisenzeiten nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf".

Die Auseinandersetzungen als Zeichen für eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft zu deuten, greift nach Überzeugung der Bertelsmann-Experten zu kurz. Die Wirklichkeit sei vielfältiger und eine Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Gruppen "gar nicht so leicht zu ziehen". Das belege auch der wissenschaftliche Blick auf die Corona-Proteste. In der Studie wird auf Erkenntnisse des Soziologen Oliver Nachtwey von der Universität Basel über die "Querdenken"-Bewegung verwiesen.

"Querdenken"-Bewegung: eher akademisch, grün und links

Sie sei "enorm widersprüchlich und anders zusammengesetzt, als vordergründig zu erwarten wäre". Demnach stammen ihre Anhänger aus einem eher akademischen Milieu, sind tendenziell älter und die Mehrheit zählt sich selbst zur Mittelschicht. Politisch verorten sie sich zu einem großen Teil bei Grünen und Linken, aber auch Rechtsextremisten und Reichsbürger sind vertreten. Gemeinsam verfügen sie über eine enorme Mobilisierungskraft, wie sie 2020 mit ihren großen Demonstrationen überall in Deutschland gezeigt haben.

Humor in der Corona-Debatte: ein Motto-Wagen beim Düsseldorfer Karneval, der einsam durch leere Straßen fuhrBild: Federico Gambarini/dpa/picture alliance

Viele "Querdenker" wird man in den Kategorien der Bertelsmann-Studie dem Milieu der Materialisten zurechnen können. Sie sind weniger universalistisch, also an allgemein gültigen Regeln orientiert, und erleben die Pandemie einseitig als Beschneidung ihrer persönlichen Freiräume. In diesem Milieu, vermutet das Team um Yasemin El-Menouar, sei die Neigung zur rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) vergleichsweise hoch und die Impfbereitschaft besonders niedrig. Aber gerade deshalb dürfe diese Gruppe "nicht vernachlässigt werden".

Es geht nicht allein um die Senkung der Infektionszahlen

Also gelte es, nach Schnittmengen zu suchen. Dazu zähle der berechtigte, von den meisten geteilte Wunsch, das Leben in seiner ganzen Fülle zu genießen. "Auch solche Sehnsüchte haben in unseren öffentlichen Debatten bislang wenig Platz." Die Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestehe darin, die verschiedenen Werthaltungen und Sichtweisen angemessen einzubeziehen, heißt es im Fazit der Studie. Dabei gehe es zunächst weniger darum, "einen umfassenden Konsens zu finden, als darum, die Vielfalt von Werthaltungen sichtbar zu machen und ihre Berechtigung anzuerkennen".

Norddeutschland und Corona

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Die Corona-Pandemie sei eine tiefe gesellschaftliche Krise, in der es keine bewährten und schon gar keine einfachen Antworten gebe. Eine liberale Demokratie sei bei der Suche nach Lösungen auf andere Weise herausgefordert als ein autoritärer Staat wie China. In Deutschland und Europa gehe es nicht allein um eine konsequente Senkung der Infektionszahlen, sondern auch darum, "unsere offene demokratische Kultur durch ein relativ unbekanntes Gelände zu manövrieren, in dem es Klippen und Abgründe gibt". Das könne die Politik nicht allein leisten, das sei eine gesellschaftliche Aufgabe. "Und umso wichtiger ist es, hier alle mitzunehmen und einzubeziehen", so die Autoren der Studie.

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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