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Corona: Turbo für die deutsche Impfkampagne?

2. März 2021

Der Druck wächst, wie in Großbritannien den Abstand zwischen beiden Impfungen zu strecken. Das könnte laut einer Studie bis zu 15.000 Menschenleben retten.

Großbritannien | Massen-Impfzentrum
Wieviel Zeit soll künftig zwischen erster und zweiter Impfung liegen?Bild: Dominic Lipinski/picture-alliance

Experte plädiert für Impf-Strategiewechsel

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Kurz vor dem Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer am Mittwoch wächst der Druck auf die Ständige Impfkommission (Stiko), ihre strengen Empfehlungen für die Verwendung gleich mehrerer Impfstoffe zu lockern. Bislang schließt die Impfempfehlung für das britisch-schwedische Vakzin des Herstellers AstraZeneca die Verwendung bei über 65-jährigen aus. Die Impfexperten verweisen darauf, dass bei ihrer Erstempfehlung nicht ausreichend Daten für die Wirkung bei älteren Menschen vorgelegen hätten.

Am Montag hat der französische Gesundheitsminister Olivier Véran angekündigt, dass sein Land diesen Impfstoff auch bei 65- bis 75-Jährigen verimpfen wird, die unter Vorerkrankungen leiden. In Deutschland könnten bis Freitag dieser Woche mehrere Millionen Dosen von AstraZeneca unverimpft im Kühlschrank liegen bleiben, vor allem weil das bereits impfberechtigte medizinische Personal die neuartigen mRNA-Impfstoffe der Hersteller BioNTech/Pfizer und Moderna bevorzugt.

Der in Großbritannien beliebte und hochwirksame AstraZeneca-Impfstoff hat in Deutschland ein Imageproblem. "Das Ganze ist irgendwie schlecht gelaufen", räumte der Leiter der Impfkommission, Thomas Mertens, in einem Interview mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen ein - und muss seitdem viel Kritik einstecken.

Massiver Schutz schon durch Erstimpfung

Ohnehin könnte Deutschland seine strauchelnde Impfkampagne trotz knappen Impfstoffs massiv beschleunigen. Das sagt der Berliner Pandemie-Forscher Dirk Brockmann im COVID-19-Videopodcast der DW. Dazu müsste der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung der neuartigen mRNA-Impfstoffe der Firmen BioNTech/Pfizer und Moderna von derzeit 28 Tagen gestreckt werden, "also, dass man nicht die zweite Dosis in den Kühlschrank legt und wartet".

Bisher folgt die zweite Impfung des Pfizer-BioNTech-Impfstoffs drei bis vier Wochen nach der ersten Bild: Christof STACHE/AFP

Der Forscher von der Berliner Humboldt-Universität errechnet in einer aktuellen Studie, dass damit "bis zu 10.000 oder 15.000 Menschen weniger sterben" würden. "In dem Szenario, wo sich eine dritte Welle anbahnt, könnten wir sehr viel mehr Leute vor Tod und schwerer Erkrankung in den Risikogruppen schützen."

Brockmann veröffentlicht am Montag eine gemeinsame Studie mit Studie mit Ben Maier (ebenfalls Humboldt-Universität zu Berlin) sowie Michael Meyer-Hermann vom deutschen Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, dem deutschen Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) und anderen. Darin gehen die Wissenschaftler davon aus, dass leichter übertragbare Virus-Varianten auch in Deutschland die Oberhand gewinnen werden. Wenn doppelt so schnell geimpft würde, könne der Effekt enorm sein, so Brockmann.

Tatsächlich zeigen verschiedene Studien aus Schottland, Israel und den USA, dass schon die Erstimpfung einen massiven Schutz entfaltet. "Nach Datenlage einen kompletten Schutz gegen Tod durch COVID in den Risikogruppen. Das ist ein Riesengewinn", sagt Brockmann. Doch der Strategiewechsel müsste schnell umgesetzt werden.

Großbritannien impft so viele und so schnell wie möglich

Dazu müsste die Ständige Impfkommission in Deutschland ihre bisherige Empfehlung ändern.In der folgte sie bislang den Vorgaben bei der Zulassung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA.Demnach sollten zwischen Erst- und Zweitimpfung des BioNTech-Impfstoffs nicht mehr als drei bis vier Wochen liegen, damit der Impfstoff optimal wirkt. Die zentrale Gesundheitsbehörde in Frankreich, HAS, ist davon bereits am 23. Januar ausgeschert und empfiehlt eine Spanne von 42 Tagen für den BioNTech-Impfstoff. In Großbritannien sind es 90 Tage.

Im Ergebnis können mehr Menschen die Erstimpfung schon jetzt erhalten, trotz noch immer knapper Lieferungen. "Normalerweise müssten wir uns an alle Vorgaben halten. Dies sind jedoch keine normalen Umstände", erläuterte Robert Read vom britischen Ausschuss für Immunisierung gegenüber der DW bereits im Januar.

Geimpft wird in Großbritannien auch im Einkaufszentrum - hier in London Mitte FebruarBild: Henry Nicholls/REUTERS

"Wir müssen so viele Menschen wie möglich impfen, so schnell wie möglich. Und es ist unsere Einschätzung, dass dadurch kein Schaden für unsere Bevölkerung entsteht. Eher entsteht - wenn wir das nicht so machen - ein beträchtlicher Schaden durch die verlorenen Möglichkeiten", so Read. 

GB: Impf-Kampagne gegen aggressive Virus-Mutation

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In Großbritannien lag der Spitzenwert der Tagesimpfungen in dieser Woche bei fast 450.000 Spritzen, in Deutschland bei 170.000. Ein Drittel der Briten haben bislang eine erste Impfung erhalten - neben den beiden mRNA-Impfstoffen vor allem auch den Vektorimpfstoff von AstraZeneca und der Oxford-Universität. Doch der Erfolg liegt nicht nur am früheren Impfbeginn Anfang Dezember, sondern eben auch an der Streckung der Impfabstände bei den neuartigen mRNA-Impfstoffen, ist der britische Impfexperte Read überzeugt.

Deutsche Impfkommission denkt an Strategiewechsel

Sein deutscher Kollege, Stiko-Chef Thomas Mertens, schwenkt jetzt möglicherweise auf die britische Strategie um. Im Gespräch mit der DW sagt Mertens: "Ich habe keine Probleme damit, auf der neuen Datengrundlage einer Verlängerung zuzustimmen. Es wäre allerdings ein Überschreiten der ursprünglichen Zulassung, was möglicherweise rechtliche Probleme mit sich bringt." Das bezieht sich auf die in Großbritannien praktizierten 90 Tage, schon jetzt wären auch innerhalb der EMA-Zulassung sechs Wochen möglich.

Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen ImpfkommissionBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Mertens verweist darauf, dass sich seit der Impfempfehlung seiner Kommission zum Jahreswechsel die Datenlage über die neuartigen Impfstoffe verändert habe. "Zu dem Zeitpunkt unserer Empfehlung wusste man noch sehr viel weniger über die Dauer der Immunität. Zum anderen gab es die Befürchtung, dass man durch viele Teil-Immunitäten einen stärkeren Selektionsdruck bekommt und dem Virus die Chance gibt sich weiter zu entwickeln."

Das macht es aber ohnehin: In vielen EU-Staaten setzen sich ansteckendere Virus-Varianten durch. Jetzt denkt die deutsche Impfkommission über 60 oder sogar 90 Tage als Zeitraum bis zur zweiten mRNA-Impfung nach. Möglicherweise schon im März, eventuell gemeinsam mit einer Empfehlung für den Impfstoff des Herstellers Johnson&Johnson, für den eine Zulassung in der EU in Kürze erwartet wird. Dann könnte auch die Empfehlung für den Vektor-Impfstoff von AstraZeneca überarbeitet werden.

Großer Druck für Corona-Lockerungen

Schneller Impfen bedeutet die Rettung von Menschenleben - und Lockerungen von Freiheitseinschränkungen. Die neue Impfstudie von Brockmann, Maier und Meyer-Hermann erscheint kurz vor dem nächsten Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den deutschen Ministerpräsidenten am Mittwoch. Der politische Druck ist groß, weitere Corona-Maßnahmen zu lockern.

Dabei gehen die Neuinfektionen seit Mitte Februar nicht mehr weiter zurück, sehr wahrscheinlich wegen der gefährlicheren Virus-Mutanten. Im Beschluss-Entwurf für das Treffen findet die Veränderung des nationalen Impfprotokolls bislang keine Erwähnung. Das Papier liegt der DW vor. Allerdings hat auch Merkel die Studie erhalten. Der Berliner Pandemie-Modellierer Brockmann plädiert deshalb auch dafür, den Vektor-Impfstoff von AstraZeneca-Oxford jetzt verstärkt an die Gruppe jüngerer Menschen zu verimpfen, "weil die das Infektionsgeschehen antreibt".

Die Bundesregierung hat vergangene Woche veranlasst, dass damit jetzt auch Lehrer und Erzieher in Kindergärten in Deutschland geimpft werden können. Der Pandemieforscher geht einen Schritt weiter und fordert "in der ersten Hälfte des zweiten Quartals mit den Impfstoffen in die junge Bevölkerung zu gehen". Großbritannien impft seit dem 15. Februar bereits junge Menschen über 16 mit Vorerkrankungen.

 

Dieser Text wurde nach Veröffentlichung der zitierten Studie um weitere Entwicklungen aktualisiert.

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