1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Corona: Ein Virus macht Politik

3. April 2020

Corona bestimmt derzeit die Flüchtlingspolitik in Griechenland. Während die Türkei ihren Erpressungsversuch an der Grenze abbrechen musste, nutzt Athen das Virus, um die eigene Flüchtlingspolitik durchzusetzen.

Griechenland | Flüchtlingslager Moria | NGO Team Humanity
Freiwillige vom Team Humanity verteilen Masken im überfüllten Flüchtlingscamp MoriaBild: Team Humanity

Angst vor Corona im Flüchtlingscamp Moria

03:22

This browser does not support the video element.

"Jetzt ist es ruhig. Die 'illegalen Immigranten' sind zurückgebracht worden", berichtet Stavros Tzamalidis, Ortsvorsteher in Kastanies. Der kleine Ort an der griechisch-türkischen Grenze stand bis zum Ausbruch von Corona im Zentrum der Weltöffentlichkeit. Nachdem die Türkei Ende Februar die Grenzen nach Griechenland geöffnet hatte, drängten sich Tausende Flüchtlinge wochenlang hinter dem Grenzzaun in der Hoffnung, nach Europa zu kommen. Jetzt herrscht wieder Ruhe im Niemandsland zwischen Europa und der Türkei. "Sie haben die Zelte abgebrannt," berichtet Tzamalidis: "Warum sie die Immigranten auf einmal entfernt haben, wissen wir nicht. Entweder wegen Corona, oder Erdogan ist müde geworden und wollte die Szene ändern."

BND spricht von orchestrierter Aktion

Kastanies ist ein beschauliches Städtchen. Türkische Tagestouristen kommen über die Grenze, um essen zu gehen oder Alkohol zu trinken, der unter dem Regime von Recep Tayyip Erdogan sehr teuer geworden ist. Tzamalidis sieht die Beziehungen zwischen den beiden Ländern in einer schweren Krise: "Es wird schwierig werden, nach solch heftigen Auseinandersetzungen wieder zum gewohnten Alltag zurückzukehren. Doch natürlich bleiben unsere Freunde auf der anderen Seite auch weiterhin unsere Freunde. Wir haben kein Problem mit den Menschen."

Flüchtlingslager Moria: Derzeit haben viele Menschen Angst vor dem VirusBild: Team Humanity

Scheinbar zu Recht misstraute man auf griechischer Seite dem plötzlichen Flüchtlingsansturm an der griechischen Grenze. Laut Medieninformationen geht inzwischen auch der BND davon aus, dass Ankara die Aktion bewusst gesteuert hat. Mit denselben Bussen, mit denen die Flüchtlinge jetzt wieder abtransportiert wurden, hatte man sie nach Edirne auf der türkischen Seite der Grenze gebracht. Weiter nördlich, auf bulgarischer Seite, war nichts zu sehen. Präsident Erdogan hatte es gezielt auf Griechenland abgesehen. Er hatte darauf gehofft, dass das griechische Nationalsentiment hochkocht und die mehr als kritische Situation auf den Inseln eskaliert.

Sein Plan: Europa erpressen, indem er dem Staatenbund den Spiegel des eigenen Versagens in der Flüchtlingspolitik vorhält. Sein Ziel: Einen Nato-Bündnisfall erzwingen, um den Verteidigungsbund an seinem Feldzug in Syrien zu involvieren. Die Weltpresse hatte ihm dazu die richtige Bühne geboten. Es kam zu Spannungen zwischen dem griechischen und türkischen Militär. Dann machte Corona ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Weltpresse zog ab und nun musste sich auch der türkische Präsident geschlagen geben. Das Virus löste die Situation an der türkisch-griechischen Grenze - zumindest für den Moment.

Keine Entspannung auf den Inseln

In der Türkei leben offiziell etwa vier Millionen Flüchtlinge, inoffiziell wesentlich mehr. In Griechenland befinden sich laut Aussagen der Regierung derzeit etwa 100.000 Asylsuchende, 41.000 von ihnen auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos. Eine von ihnen ist die 20-jährige Somaya aus Afghanistan. Sie lebt im offiziellen Camp von Moria in einer wetterdichten Unterkunft. Nur wenigen wird dieser traurige Luxus zuteil. Um das Camp hat sich eine postapokalyptische Zeltstadt, der sogenannte Dschungel, gebildet. Hier lebt der Großteil der rund 21.000 Flüchtlinge auf Lesbos in Zelten und Pappkartons: "Es ist sehr kalt gerade. Das Leben ist hart. Es hat viel geregnet", beschreibt Somaya die Lage.

Viele Freiwillige unterstützen die dänische NGO "Team Humanity"Bild: Team Humanity

Derzeit hätten viele Menschen Angst vor dem Virus: "Wir haben kaum Wasser und die Flüchtlinge hier wissen nicht, was passiert. Kann man sich mit dem Virus anstecken? Ich mache mir Sorgen." Doch Somaya will selbst helfen und unterstützt als Freiwillige die dänische Hilfsorganisation "Team Humanity". Im Hope-&-Peace-Center verteilt sie Essen und Kleidung. Derzeit aber geht es auch hier um Corona. In Eigenproduktion werden Schutzmasken genäht und im Camp verteilt. Dazu gibt es Seife und einen Flyer mit Instruktionen.

Eher Worte als Maßnahmen

Vor zwei Wochen hatte Athen einen 12-Punkte-Katalog für das Corona-Verhalten in Flüchtlingseinrichtungen erlassen. Besuche oder Aktivitäten innerhalb des Camps werden eingestellt. Die Bewohner sollen sich nur wenn nötig innerhalb des Camps bewegen. Einkäufe außerhalb dürfen nur noch von einem Familienmitglied durchgeführt werden, das in Polizeibussen zu den entsprechenden Läden gefahren wird. Ab 19 Uhr herrscht Ausgehverbot. Neue Verordnungen verbieten den Asylsuchenden zudem, Geldautomaten in den umliegenden Dörfern aufzusuchen. Die Regierung kündigte an, Geldautomaten direkt im Camp zu installieren, aber wann das passieren soll, ist unklar.

Punkt fünf des Katalogs mahnt die Menschen, sich an die Hygienevorschriften zu halten. Apostolos Veizeis von Ärzte ohne Grenzen fragt sich wie: "Alles ist überfüllt. Das sind ideale Zustände für die Ausbreitung von COVID-19. Seit Monaten wird der Müll nicht mehr entsorgt. 1.300 Menschen teilen sich einen Wasserhahn. Viele haben gar keinen Zugang zu Wasser, Strom oder Toiletten und sie verrichten ihre Notdurft unter freiem Himmel."

Politisches Kalkül auf Kosten der Flüchtlinge?

Die Regierung schweigt zu all dem. Auch nach mehrmaligem Nachfragen der Deutschen Welle, wie die Maßnahmen im Camp durchgeführt werden sollen, ob es konkrete Evakuierungspläne gibt und ob überhaupt getestet wird, schickte man lediglich den bereits veröffentlichten Maßnahmenkatalog.

Handgemachte Schutzmasken für die Flüchtlinge auf LesbosBild: Getty Images/AFP/M. Lagoutaris

Apostolos Veizeis hält die Corona-Maßnahmen der Regierung für scheinheilig. Diese seien vor allem zum Schutz der Lokalbevölkerung gedacht und diskriminierten die Asylsuchenden in den Lagern, die nach wie vor schutzlos dastünden. Gerade anfällige Menschen müssten umgehend evakuiert werden. Auf ganz Lesbos gebe es nur fünf Intensivbetten, auf Samos sogar nur zwei. Drei Ärzte vom Gesundheitsministerium müssten sich in Moria um 20.000 Menschen kümmern und hätten dabei kaum Medikamente oder Material zur Verfügung.

Veizeis vermutet, dass die griechische Regierung  das Virus für die eigene politische Agenda nutzt: "Wenn sie jetzt sagen, dass es nun an der Zeit sei, vorsichtig zu sein und es das sicherste sei, Flüchtlinge in geschlossenen Zentren unterzubringen, dann versuchen sie einfach, dieses Konzept endlich durchzusetzen." Bis dato war Athen für die geschlossenen Zentren von Menschenrechtsorganisationen, der EU in Brüssel und auch der Lokalbevölkerung scharf kritisiert worden.

Erste Corona-Fälle in einem Flüchtlingslager

Und während Ankara am Evros aufgrund des Virus die Notbremse zog, scheint Athen in puncto Flüchtlinge auf Eskalation zu setzen. Für Veizeis steht fest: "Sollte das Virus in den Flüchtlingslagern ausbrechen, steht eine Katastrophe bevor." Die könnte bereits begonnenen haben: In Ritsona, einem Flüchtlingslager nahe Athen, gibt es die erste Corona-Fälle. Nachdem 21 Migranten positiv auf das neuartige Virus getestet wurden, stellte die Regierung das Lager, in dem derzeit bis zu 2500 Menschen leben, zunächst einmal unter Quarantäne.