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Politik

Corona und die Pendler-Krise

Stephan Ozsváth
27. März 2020

Die Pendler aus dem Osten sind die Arbeitskraft-Reserve des Westens. Diese Säule bröckelt im Zuge der Corona-Krise. Vor allem Österreich und Deutschland bekommen dies stark zu spüren.

Grenzschliessung Polen Deutschland
Grenzschliessung Polen-Deutschland bei HohenwutzenBild: picture-alliance/A. Gora

Krisensitzung beim Baustoff-Hersteller Leier im österreichischen Horitschon. Der kleine Ort liegt im Burgenland, direkt an der ungarischen Grenze. Das mittelständische Unternehmen hat Werke in ganz Osteuropa und sehr viele Mitarbeiter aus Ungarn. Am Telefon meldet sich nicht wie sonst die ungarische Sekretärin aus Sopron, sondern ein Österreicher. "Die Geschäftsleitung ist in einer Sitzung", sagt die männliche Stimme, "das wird länger dauern." Bis zu 20.000 Pendler aus Ungarn kamen vor der Corona-Krise regelmäßig zum Arbeiten ins Burgenland, so die regionale Wirtschaftskammer. Das ändert sich jetzt. "Bis heute konnten unsere Mitarbeiter noch kommen, ab heute sind alle Grenzen dicht", heißt es am Telefon in Horitschon. Die Wirtschaftskammer schickt die jüngsten Bestimmungen. Danach müssen Ungarn künftig nach der Heimkehr für zwei Wochen in häusliche Quarantäne. 

Volle Auftragsbücher beim Armaturen-Hersteller

"Das betrifft aber nicht die Tagesberufspendler", beharrt Alexander Fuerlinger am Vormittag noch. Der Österreicher ist Werksleiter des Armaturenherstellers Kludi im burgenländischen Hornstein. Aber so recht weiß er auch nicht, was los ist. "Ich telefoniere schon den ganzen Morgen." Im Kludi-Werk in Hornstein arbeiten etwas mehr als 100 Leute, ein Drittel kommt jeden Tag aus Ungarn. Einer von ihnen ist Géza Dezsö. "Heute wissen wir noch nicht mal, wie wir wieder über die Grenze nach Hause kommen", sagt er. In einem kleinen Dorf bei Sopron hat er sich mit dem Verdienst aus Österreich ein großes Haus gebaut. Doch in der Corona-Krise kommt der Ungar ins Grübeln. "Wofür zum Teufel gibt es die EU?" In dieser Krise mache jeder Nationalstaat, was er wolle, schließe einfach Grenzen. "Ich habe schon über einen Umzug nach Österreich nachgedacht", schnaubt er, "dann bin ich wenigstens innerhalb der Grenzen." Auch der Kludi-Werksleiter macht sich Sorgen, denn "die Auftragsbücher sind voll." Wie lange Fuerlinger mit den Ungarn in seiner Belegschaft noch rechnen kann, weiß er nicht. "Ich bete jeden Tag", sagt er, "für meine Mitarbeiter, die gesamte Menschheit und dass es weiter geht."

Deutsch-polnischer Grenzübergang, SlubiceBild: DW/W. Szymanski

Kellner im Aus

Der 37-jährige Gábor Maris hockt bereits seit Anfang März in Csokonyavisonta an der ungarisch-kroatischen Grenze in der Wohnung seiner Schwester fest. "Ich habe bei Linz in einem Seminarhotel gearbeitet", erzählt er, immer fünf Tage am Stück, am Wochenende sei er immer zu Hause gewesen. Am Dachstein in der Steiermark hätte er Anfang März in einem anderen Seminarhotel anfangen sollen, näher an seinem Zuhause. Doch dann kam die Nachricht von seinem neuen Arbeitgeber. Standby. Vorläufig soll er seinen Job nicht antreten, "frühestens im Mai, vielleicht auch erst im Juni", sagt er. Jetzt lebt der Ungar vom Ersparten. Die zuständige Arbeitsagentur in Ungarn hat ihn weggeschickt, frühestens in zwei Wochen hätten sie Zeit für ihn. "Ich weiß nicht, was wird", sagt er, die Informationspolitik der ungarischen Regierung nennt er "lächerlich".

Pflegenotstand in ganz Europa

"Beschissen" antwortet Karla Engelhard auf die Frage, wie es ihr gehe. Gerade hat die Hörfunk-Journalistin ihren Vater aus dem Prenzlauer Krankenhaus abgeholt, er will in den eigenen vier Wänden sterben. Eine polnische Pflegerin hatte ihn bisher gepflegt. "Die ist aber nicht mehr aufgetaucht", sagt die Journalistin. So wie ihr geht es derzeit vielen. Die grenznahe Region Brandenburg ist auf das medizinische Personal aus dem Nachbarland Polen angewiesen. Doch seit diesem Freitag sind die Grenzen in Polen auch für Berufspendler dicht. Wer nach Polen zurück will, muss zwei Wochen in Quarantäne - oder in Deutschland bleiben. Die grenznahen Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg bemühen sich mit Geldspritzen und Unterbringung in leerstehenden Hotels darum, dass die Polen bleiben. Nach Angaben der Industrie- und Handelskammern sind mehr als 25.000 Pendler alleine in Berlin und Brandenburg von der neuen Verordnung betroffen. Viele von ihnen arbeiten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Bild: picture-alliance/dpa/D. Karmann

Journalistin Engelhard bestätigt das: Jeder zweite Arzt oder Pfleger im Krankenhaus Prenzlau komme aus Polen, sagt sie, "es wäre brutal, wenn sie fehlen würden." Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) warnte in dem ARD-Magazin "Report Mainz", dass ab Ostern 100.000 bis 200.000 Menschen schrittweise nicht mehr versorgt würden, "dass sie alleine zu Hause bleiben und dass sie dann in Altenheimen oder Kliniken versorgt werden müssten", so VHBP-Geschäftsführer Frederic Seebohm. Das würde das Gesundheitswesen zusätzlich zu den Covid-19-Erkrankten belasten. Auch in anderen Wirtschaftszweigen drohen Engpässe. Karla Engelhard erzählt von ihrem Nachbarn, einem Landwirt. "Der muss jetzt eigentlich die Gerste ernten", sagt sie. Aber die fünf polnischen Erntehelfer, die ihm sonst dabei helfen, sind weg. Ersatz sei nicht so einfach zu bekommen, meint sie. "Dafür braucht man Erfahrung", das könnten Studenten oder Schüler nicht aus dem Stand machen.