Corona und Klima: Teure Aussichten für 2022
31. Dezember 2021Es war so etwas wie die erste Amtshandlung des neuen Bundesfinanzministers und FDP-Chefs Christian Lindner. Kurz nach seiner Vereidigung brachte er ein Gesetz für einen Nachtragshaushalt auf den Weg, den er als Oppositionspolitiker noch als unsolide gegeißelt hätte. Er will ungenutzte Corona-Kredite aus dem Jahr 2021 so umbuchen, dass sie erstens nicht verfallen und zweitens als Rücklage für andere Aufgaben dienen können.
Es geht um 60 Milliarden Euro. Lindner will die Summe in den Energie- und Klimafonds auslagern, ein Sondervermögen des Bundes. Das Geld würde gebraucht, um bei "der Transformation einer der größten Industrienationen hin zur Klimaneutralität" zu helfen, sagte der Bundesfinanzminister im Bundestag und verwies damit noch einmal auf das erklärte Ziel der neuen Regierung von SPD, Grünen und FDP.
Ist der Nachtragshaushalt verfassungswidrig?
Lindners Schachzug kommt nicht überall gut an. Es sei "grundsätzlich problematisch, dass Rücklagen mittels Schulden gebildet werden, um in den nächsten Jahren Projekte zu finanzieren", kritisiert der Bund der Steuerzahler. CDU und CSU, die seit der Bundestagswahl in der Opposition sind, gehen noch einen Schritt weiter. "Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich halte diesen Nachtragshaushalt für verfassungswidrig", schimpfte Christian Haase, der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.
Die Umwidmung der Mittel sei nichts anderes als eine Umgehung der im Grundgesetz verankerten Schuldenregeln. "Ich halte diesen Nachtragshaushalt für den Anfang vom Ende der Schuldenbremse. Und das wird mit Ihrem Namen verbunden sein."
Koalitionszwang mit Folgen
Während sich Haase echauffierte, vertiefte sich Lindner auf der Regierungsbank demonstrativ in seine Akten. Der FDP-Politiker ist in einer für ihn unangenehmen Situation. Jahrelang hat er darauf gedrängt, dass Deutschland die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse so schnell wie möglich wieder einhalten muss. Die Verfassung schreibt vor, dass der Staat - bis auf einen kleinen Kreditrahmen - nur so viel Geld ausgeben darf, wie er einnimmt.
Wegen der Pandemie, die eine Notlage darstellt, ist die Schuldenbremse ausgesetzt. 2023, das beteuert Lindner, werde sie wieder eingehalten. Doch ist das realistisch? Als neuer Bundesfinanzminister unterliegt er den Zwängen einer Regierungskoalition, die in den kommenden Jahren enorm viel Geld brauchen wird, um die Folgen der Corona-Pandemie zu bewältigen und auf den Klimawandel zu reagieren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund rechnete kürzlich vor, dass pro Jahr 50 Milliarden Euro nötig sein werden.
Im Haushalt gibt es keine Spielräume
Lindner muss das Geld auftreiben, doch das wird schwierig. Der Bundeshaushalt ist unflexibel. Jeder zweite Euro ist für Sozialleistungen fest verplant, der Löwenanteil sind Rentenzahlungen. Kürzungen stehen nicht zur Debatte, die älter werdende Gesellschaft lässt den Bedarf insgesamt sogar steigen. Auch die Folgen der Corona-Pandemie treiben die Sozialausgaben in die Höhe. Die FDP hat in den Koalitionsverhandlungen dafür gesorgt, dass die Steuern nicht erhöht werden. So bleiben als einzige Möglichkeit neue Kredite.
Seit Beginn der Pandemie hat sich Deutschland erheblich weiter verschuldet. Während die Bundeshaushalte der Jahre 2014 bis 2019 jeweils ausgeglichen waren, mussten 2020 und 2021 Kredite in Rekordhöhe aufgenommen werden. Der Schuldenberg des Bundes ist in den zwei Jahren um rund 400 Milliarden Euro auf deutlich mehr als 1,4 Billionen Euro angewachsen. Addiert man die Schulden der Bundesländer und der Kommunen, liegt die Summe bei knapp 2,4 Billionen Euro.
Zwar sollen die pandemiebedingten Schulden zurückgezahlt werden. Bislang war vereinbart, innerhalb von 20 Jahren. Doch das ist bereits Makulatur. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass die Schuldentilgung um weitere 16 Jahre auf 36 Jahre verlängert wird.
Neuer Haushalt, neue Schulden
2022 wird sich der Bund auf jeden Fall weiter verschulden. Unter der alten Regierung hatte der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), der jetzt Bundeskanzler ist, für 2022 knapp 100 Milliarden Euro neue Schulden veranschlagt. Allerdings nur im Rahmen eines Etatentwurfs, der nie Gesetz wurde. Das ist so üblich in Jahren, in denen der Bundestag neu gewählt wird. Nach der Wahl obliegt es der neuen Regierung, den Entwurf zu überarbeiten.
Das geschieht nun gerade. Die neu besetzten Ministerien müssen bis zum 25. Februar ihre Ausgabenwünsche anmelden. Am 9. März soll der Entwurf im Kabinett beschlossen werden, dann ist das Parlament am Zug. Die Neuverschuldung für 2022 will Lindner bei den vorgesehenen 100 Milliarden Euro belassen. Allerdings sind die Konjunkturprognosen uneinheitlich, es wird maßgeblich vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängen, ob die Wirtschaft läuft und die Steuern fließen.
Noch mehr Wirtschaftshilfen nötig
Wo es nur geht, will Lindner daher Ausgaben eingrenzen. In einem Brief, den der Bundesfinanzminister kurz vor Weihnachten verschickte, fordert er seine Kabinettskollegen zum Verzicht auf. Sie sollen "Sparpotenziale nutzen" und sich von "unrealistischen Zusagen" verabschieden: "Eine politische Ankündigung von nicht gegenfinanzierten Maßnahmen bereits im Vorfeld der weiteren Haushaltsverhandlungen ist nicht zielführend, weil damit in der Öffentlichkeit Erwartungen geweckt werden, die sich gegebenenfalls als unerfüllbar erweisen können."
Fest steht, dass angeschlagene Unternehmen auch 2022 weiterhin finanziell unterstützt werden sollen. Laut Bundesfinanzministerium wurden bislang knapp 58 Milliarden Euro in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen an Unternehmen ausgezahlt (Stand November 2021). Die rückzahlbaren Hilfen, dazu zählen Kredite, Bürgschaften und staatliche Beteiligungen, belaufen sich auf knapp 70 Milliarden Euro.
2022 müssen Unternehmen eigentlich mit der Rückzahlung beginnen, nachdem die Tilgung im ersten Jahr ausgesetzt war. Wie aber soll das funktionieren, wenn die Pandemie die Geschäfte bis weit ins kommende Jahr beeinträchtigen wird? Es ist zu erwarten, dass viele Rückzahlungen ausbleiben werden, dazu kommen neue Anträge. Auch auf Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld. Erste Branchen wie die Gastronomie, die Veranstaltungswirtschaft und der Tourismus haben bereits Entlassungen angekündigt.
Volkswirtschaft boostern
Die Pandemiebewältigung ist aber nur ein Feld, das die neue Regierung finanziell bearbeiten muss. Der Umbau der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität soll so schnell wie möglich starten. "Durch die Unsicherheiten und Einschränkungen der Corona-Krise sind viele Investitionen in die Modernisierung der Wirtschaft ausgefallen", stellt Christian Lindner fest.
Mit den 60 Milliarden Euro aus dem Nachtragshaushalt will er einen Booster für die Volkswirtschaft zu zünden. "Es ist von grundlegender Bedeutung, jetzt einen Nachholprozess zu organisieren. Wir dürfen durch die Pandemie nicht auch noch Zeit bei der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft verlieren." Davon verspricht sich Lindner mehr Wirtschaftswachstum und damit auch mehr Steuereinnahmen.
Das ist auch die Linie des Bundeskanzlers. "Neue Finanzspielräume entstehen durch Wachstum und Wachstum ist das Ergebnis kluger Investitionen", sagte Olaf Scholz kürzlich im Bundestag. "Darum war und ist es richtig, nicht gegen die Krise anzusparen, sondern auch breite Hilfen und hohe Investitionen möglich zu machen, sodass wir aus der Krise herauswachsen."
Kein Sparkurs - auch nicht in Europa?
Interessant wird auch, wie sich der neue Bundesfinanzminister in der europäischen Finanzpolitik positionieren wird. Vor der Bundestagswahl galt der FDP-Politiker Lindner vor allem in den südeuropäischen Ländern als Angstgegner, da er sich für einen harten Konsolidierungskurs stark machen wollte. Nun hat sein nationaler Nachtragshaushalt über 60 Milliarden Euro ganz andere Erwartungen ausgelöst.
Das wurde bei Lindners Antrittsbesuch in Paris deutlich, als ihm sein französischer Kollege Bruno Le Maire zu diesem Schachzug ausdrücklich gratulierte. Zustimmend wurde in Frankreich und einigen südeuropäischen EU-Ländern auch zur Kenntnis genommen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) beide vor einem Sparkurs innerhalb der EU warnen.
Auch Deutschland reißt die EU-Schuldengrenze
Bislang erlaubt der europäische Stabilitätspakt in den Mitgliedsländern nur eine Verschuldung von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also der Summe aller wirtschaftlichen Leistungen. Eine Marke, die in einer Reihe von Staaten immer wieder - zum Teil deutlich - überschritten wird. Deutschland lag 2019 erstmals seit 2002 wieder unter 60 Prozent. 2020 waren es bereits wieder mehr als 68 Prozent. Tendenz: weiter steigend.