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Gesellschaft

Corona: Unmut in Russlands Gefängnissen

Natalia Smolentceva | Markian Ostaptschuk
6. Mai 2020

Weltweit kommen Häftlinge wegen der Corona-Pandemie frei, aber nicht in Russland. Menschenrechtler warnen, dass sich der russische Strafvollzug noch weiter abschottet. Die Lage in den Gefängnissen ist beunruhigend.

Moskau Butyrka Gefängnis
Bild: Getty Images/AFP/N. Kolesnikova

"Es gibt weder Masken noch Tests", sagt Iwan, Insasse eines Gefängnisses in der russischen Region Jaroslawl. Offiziell gebe es dort keine Corona-Fälle, doch viele Häftlinge hätten Symptome einer akuten Atemwegsinfektion. Nicht alle Erkrankten würden isoliert, berichtet Iwan der DW. Da er anonym bleiben möchte, haben wir seinen Namen geändert.

Iwan zufolge werden Gefangene zwar geröntgt. Sie sollten Schutzmasken tragen und untereinander Distanz halten. Doch Masken fehlten eben und der Abstand zwischen den Betten betrage weniger als einen Meter. Dreimal täglich müssten alle Gefangenen zudem draußen auf dem Hof antreten.

Zweifel an Zahlen der Behörden

Die russische Strafvollzugsbehörde meldete Ende April, landesweit seien rund 270 Mitarbeiter und 40 Gefangene auf das Coronavirus positiv getestet worden. Doch keiner der Infizierten habe einen schweren Krankheitsverlauf. Bis Ende April wurden angeblich fast 19.000 Corona-Tests im Strafvollzug durchgeführt. Insgesamt sitzt eine halbe Million Menschen in russischen Gefängnissen, die von rund 300.000 Mitarbeitern bewacht werden.

Glaubt, dass es mehr Infizierte gibt: Menschenrechtsaktivistin Olga RomanowaBild: DW/Artem Khan

Olga Romanowa von der Menschenrechtsinitiative Rus Sidjaschaja (Sitzendes Russland), befürchtet, dass es in Wirklichkeit viel mehr Infizierte gibt. Seit März verfolgt die Initiative die Corona-Lage im Strafvollzug. Informationen kommen von den Häftlingen, ihren Anwälten und Angehörigen, aber auch von den sogenannten Gesellschaftlichen Aufsichtskommissionen, die darüber wachen sollen, dass die Menschenrechte in den Gefängnissen eingehalten werden. In jüngster Zeit, so Romanowa, berichteten sogar Strafvollzugsbeamte darüber, was in den Anstalten passiert: "Sie haben Angst, denn sie wissen, dass sich niemand um sie sorgen wird."

Weder Besuche noch Pakete

Noch bevor die russische Strafvollzugsbehörde offiziell erste Corona-Fälle zugab, erreichte Rus Sidjaschaja eine Welle von Beschwerden, wonach es in den Gefängnissen immer mehr Menschen mit Grippesymptomen gibt. "Die Leute klagen über Fieber und Husten", sagt Aleksej Fedjarow, Anwalt der Menschenrechtsinitiative. Viele würden sich auch darüber beklagen, dass Medikamente fehlten.

Vom Abstand kann in russischen Gefängnissen keine Rede seinBild: privat

Wegen der Corona-Pandemie wurden vorübergehend jegliche Besuche von Angehörigen verboten. In mehreren Regionen des Landes dürfen nicht einmal mehr Pakete an Gefangene übergeben werden - die oft auch Medikamente enthalten. "Die Häftlinge haben plötzlich keine Möglichkeit mehr, Lebensmittel zu bekommen", so Fedjarow. Ihm zufolge droht in einigen Gefängnissen, dass die Insassen hungern müssen.

Rus Sidjaschaja hat in den vergangenen Jahren mehrfach die Zustände in dem völlig intransparenten und von Korruption durchsetzten russischen Strafvollzug kritisiert. Damit nichts nach außen dringt, wird nach Angaben der Menschenrechtsaktivisten auch gefoltert. Beschwerden von Gefangenen richteten sich oft gegen das Personal. Dabei geht es um körperliche und seelische Verletzungen. Doch nach Drohungen zögen die Gefangenen ihre Beschwerden meist zurück.

Amnestie als Corona-Bekämpfung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert unterdessen, weltweit Maßnahmen zu ergreifen, um Häftlinge vor dem Coronavirus zu schützen. Und Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, empfiehlt sogar, Insassen überfüllter Gefängnisse freizulassen.

Mehrere Regierungen folgten dem Rat. Über 80.000 Gefangene wurden vorübergehend im Iran und 30.000 in Indonesien freigelassen. Auch in den USA kommen viele Häftlinge frei. In Frankreich sind es über 6000 und in Deutschland rund 1000. Walerij Fadejew, Vorsitzender des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, erklärte hingegen, in Russland werde es keine massenweise Freilassung geben, auch nicht anlässlich des 75. Jahrestages des Sieges über Nazi-Deutschland.

Menschenrechtsaktivisten halten allerdings eine Amnestie für die wirksamste Maßnahme, um eine Ausbreitung des Coronavirus in Gefängnissen einzudämmen, auch wenn das in der russischen Gesellschaft unpopulär ist. "Wenn man der Gesellschaft nicht erklärt, was eine Amnestie ist, wird sie unbeliebt bleiben", sagt Olga Romanowa.

Menschenrechtsverstöße im Schatten der Pandemie

Die verschärften Maßnahmen im Strafvollzug sorgen unter den Gefangenen für Unmut. Anfang April gab es eine Meuterei in der Region Irkutsk, bei der zehn Menschen schwer verletzt wurden. Sie wurden, so erzählen Häftlinge, vom Gefängnispersonal brutal geschlagen. "Das muss untersucht werden", fordert der Menschenrechtler Swjatoslaw Chomenkow und fügt hinzu: "Sowohl Aktivisten als auch Familien versuchen, Anwälte dorthin zu schicken, aber sie werden unter Hinweis auf die Quarantäne nicht zugelassen."

Chomenkow und andere Aktivisten warnen davor, dass sich der Strafvollzug im Zuge der Corona-Pandemie noch stärker abschottet. Ohne die Kontrollen der Gesellschaftlichen Aufsichtskommissionen und ohne Familienbesuche könne nur schwer kontrolliert werden, ob die Rechte von Gefangenen respektiert werden. "Sollten Häftlinge tatsächlich massenhaft an dem Coronavirus sterben, dann könnten damit", so fürchtet Chomenkow, "auch die Todesfälle misshandelter und gefolterter Gefangenen vertuscht werden."

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