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Corona: Warum das Virus Deutschland weiter spaltet

Helen Whittle
24. Oktober 2024

Selten haben Anordnungen und Verbote die Gesellschaft in Deutschland so polarisiert wie in der Corona-Pandemie. Experten und Politiker fordern eine Aufarbeitung.

Polizisten in Schutzkleidung stehen Demonstranten gegenüber
Wie hier im März 2021 in Kassel kam es während der Pandemie in ganz Deutschland zu Protesten gegen staatlich verordnete Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des CoronavirusBild: Thilo Schmuelgen/REUTERS

Wie gefährlich war das Corona-Virus? Waren die Corona-Schutzmaßnahmen, die von der Bundes- und den Landesregierungen verordnet waren, richtig und angemessen? Der deutsche Virologe Christian Drosten warnte kürzlich davor, das Virus und seine Auswirkungen im Rückblick zu verharmlosen. "Diese Umdeutung, die im Moment läuft, ist unredlich", sagte Drosten, der während der Pandemie zu einem der prominentesten Wissenschaftler im Land wurde, in einem Interview der Augsburger Allgemeinen Zeitung. 

Der Eindruck, dass die Wissenschaft in der Pandemie kontrovers um eine Einschätzung gerungen und es viele verschiedene Meinungen gegeben habe, stimme nicht. "Den Streit um Grundsätzliches hat es in der Wissenschaft so nicht gegeben, wie er in Talkshows dargestellt wurde." Wenige Wissenschaftler seien anderer Meinung gewesen, hätten mit ihren Gegenthesen aber breiten Raum in der Öffentlichkeit eingenommen. "Das war Infotainment", kritisiert Drosten rückblickend. 

Prominenter Virologe: Christian Drosten erklärte den Deutschen regelmäßig die Corona-PandemieBild: Emmanuele Contini/NurPhoto/picture alliance

Covid mit einer Grippe zu vergleichen sei eine klare Fehleinschätzung gewesen. "Leider versuchen die gleichen Leute, die schon damals falsche Aussagen getroffen haben, jetzt, ihr öffentliches Image zu polieren. Die Pandemie ist Geschichte, und die sollten wir nicht verbiegen."

BSW und AfD fordern Corona-Untersuchungsausschuss

Das links-populistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die in Teilen rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) haben die Corona-Schutzmaßnahmen in weiten Teilen schon immer abgelehnt. Seit Monaten fordern die beiden Parteien eine Aufarbeitung der Corona-Politik in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Bundestag. Dieser sei nötig, "um die Zeit mit den größten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik zu beleuchten", wie Wagenknecht im März 2024 sagte.

Das BSW wirft der Regierung vor, "abweichende Positionen im öffentlichen Diskurs unterdrückt" und dafür unzulässigen politischen Einfluss auf das Robert-Koch-Institut (RKI) genommen zu haben, wie es in dem Antrag für den Ausschuss heißt. Das RKI ist eine Bundesbehörde, die Krankheiten von hoher Gefährlichkeit, weitem Verbreitungsgrad oder großer öffentlicher oder gesundheitspolitischer Bedeutung bewertet, analysiert und erforscht. 

Waren die Corona-Schutzmaßnahmen angemessen?

Maskenpflicht, Ausgangssperren, Schulschließungen, Demonstrationsverbote und eine Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegekräfte: Die Corona-Schutzmaßnahmen, die die Bundesregierung zunächst unter Angela Merkel (CDU) einführte und die später von SPD, Grünen und FDP unter dem Sozialdemokraten Olaf Scholz fortgesetzt wurden, waren zum Teil höchst umstritten.

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Einige der damaligen politischen Entscheidungsträger haben eingeräumt, dass Fehler gemacht wurden und sie heute bestimmte Dinge anders machen würden. Andererseits verweisen sie auch auf das beispiellose Ausmaß der Krise. Das Gesundheitswesen sei an seine Grenzen geraten. Am 27. Januar 2020 wurde in Deutschland der erste Mensch positiv auf das Corona-Virus getestet. Bis zum 19. Dezember 2023 wurden offiziell 38.437.756 Infektionen gezählt. 174.979 Menschen starben. 

Ampel uneins über Aufarbeitung

Nach derzeitigem Stand wird es keine offizielle Aufarbeitung der Maßnahmen auf Bundesebene geben. SPD, Grüne und FDP können sich nicht einigen, in welcher Form das geschehen könnte. Die Sozialdemokraten fänden eine Überprüfung nur "auf Augenhöhe mit den Bundesländern" sinnvoll. Die Freien Demokraten sind für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Bundestag. 

Unterdessen beschäftigen die Folgen der Pandemie den Bundesrechnungshof und zahlreiche Gerichte. Das Bundesgesundheitsministerium führt einen langwierigen Rechtsstreit mit Lieferanten von FFP2-Masken wegen offener Rechnungen. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte viel Geld für jede gelieferte Maske garantiert und war daraufhin von Angeboten überschüttet worden. Spahn hatte daraufhin versucht, viele Geschäfte für ungültig erklären zu lassen. Der Fall liegt nun beim Bundesgerichtshof.

Zweifel an Spahns Amtszeit als Gesundheitsminister wurden auch vom Bundesrechnungshof aufgeworfen. Er kritisiert das Ministerium für die "massive Überbeschaffung" von Masken. Die Hälfte musste vernichtet werden, weil die Masken nicht benötigt wurden und ihr Haltbarkeitsdatum ablief.

Umsturz- und Entführungspläne

Spahns Nachfolger wurde Karl Lauterbach (SPD), ein ausgebildeter Arzt. Von Beginn der Corona-Pandemie an setzte er sich für strenge Maßnahmen zur Eindämmung von Covid ein. Das machte ihn für viele in der deutschen "Querdenker"-Szene, bei Impfgegnern und Kritikern der Corona-Beschränkungen, zu einer Hassfigur.  

Während der Pandemie stellten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (vorne) und RKI-Präsident Lothar Wieler regelmäßig die "Aktuelle Corona-Lage" vorBild: Jens Schicke/IMAGO

Die "Querdenker"-Szene steht wegen ihrer "verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Im April 2022 wurden mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe "Vereinte Patrioten" mit Verbindungen zur Querdenker-Szene und zur rechtsextremen Reichsbürgerbewegung festgenommen, weil sie einen Regierungsumsturz und die Entführung Lauterbachs planten. Der Gesundheitsminister steht bis heute rund um die Uhr unter Schutz.

Prominente Querdenker des Betrugs beschuldigt   

Als Paradebeispiel für die Radikalisierung der Szene bezeichnete der deutsche Soziologe Matthias Quent die Stuttgarter "Querdenken-Gruppe 711", eine der ersten Protestbewegungen gegen die Corona-Schutzmaßnamen. Ihre Mitglieder präsentierten sich gezielt als "Widerstandskämpfer gegen vermeintliches diktatorisches Unrecht".

Prominenten Persönlichkeiten aus der Querdenker-Szene wird inzwischen Korruption vorgeworfen. Außerdem sollen sie die Pandemie genutzt haben, um Gewinne zu machen. Michael Ballweg, Gründer und Chef von "Querdenken 711", soll über öffentliche Spendenaufrufe mehr als 1,2 Millionen Euro gesammelt und mehr als 575.000 Euro für eigene Zwecke verwendet haben.

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Dem ehemaligen Anwalt und führenden Kopf der Querdenker-Szene Reiner Fuellmich wird vorgeworfen, 700.000 Euro aus der von ihm mitgegründeten Stiftung "Corona-Ausschuss" veruntreut zu haben. Das selbsternannte "Expertengremium" verbreitete irreführende Behauptungen über die Krankheit und über Impfungen. Fuellmich, einst Spitzenkandidat der Partei "Die Basis", wird Unterschlagung und Betrug vorgeworfen. Er wurde wegen Verleumdung und Aufwiegelung verurteilt, nachdem er Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts (RKI) als "Massenmörder" bezeichnet hatte.

Kontroverse um geschwärzte RKI-Protokolle  

Das RKI spielte während der Pandemie eine herausragende Rolle. Regelmäßig wurden Besprechungen und Bewertungen zum Lage- und Krisenmanagement durchgeführt. In den Protokollen dieser Sitzungen spiegelt sich der wissenschaftliche Diskurs wider. Er zeigt, wie verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen wurden. Wie der Stand des Wissens und auch der öffentlichen Debatte im Krisenstab zum jeweiligen Zeitpunkt war.

Im April 2023 veröffentlichte das RKI als Reaktion auf eine Anfrage nach dem Freedom of Information Act erstmals Dateien aus dem Zeitraum von Januar 2020 bis April 2021. Dabei handelte es sich zunächst um stark redigierte Versionen, die laut RKI dem Schutz der Rechte Dritter, des geistigen Eigentums, der öffentlichen Sicherheit und der internationalen Beziehungen dienen sollen - doch dies lieferte nur Futter für Verschwörungstheoretiker.

Ein Leak und seine Folgen

Im Mai 2024 veröffentlichte das RKI die Dateien schließlich in weitgehend unredigierter Form. Nur zwei Monate später wurde eine völlig unredigierte Fassung im Internet öffentlich. Angeblich wurde sie von einem RKI-Mitarbeiter geleakt. Die Unterlagen heizten die Kontroverse über Themen wie die Risikobewertung des Virus durch das RKI, die Wirksamkeit des Tragens von Masken und Impfstoffen sowie die Auswirkungen von Lockdowns weiter an. 

Das RKI hat sich bislang nicht zur Echtheit der geleakten Dateien geäußert und sagt, es plane weiterhin, die verbleibenden Dateien "so weit wie möglich ohne Schwärzungen" zu veröffentlichen.

Wie fühlt sich ein an Long Covid Erkrankter?

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Die Pandemie ist vorbei, Long Covid bleibt

Die letzten verbliebenen Corona-Schutzmaßnahmen liefen in Deutschland am 7. April 2023 aus. Kurz danach erklärte die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen das Ende von COVID-19 als gesundheitliche Notlage. Doch neue Varianten des Virus zirkulieren weiterhin und Menschen mit Long Covid leben noch immer tagtäglich mit den Folgen der Pandemie. Mindestens 65 Millionen Menschen weltweit leiden schätzungsweise an Long Covid. Dabei geht man davon aus, dass 10 Prozent der mit dem Virus infizierten Personen langanhaltende Symptome aufweisen. 

Gespaltene Gesellschaft

In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im März 2024 sagte der deutsche Gesundheitsminister Lauterbach, das Land sei heute zumindest technisch viel besser auf die nächste Pandemie vorbereitet. "Als Gesellschaft sind wir deutlich schlechter vorbereitet, weil wir eine massiv mobilisierte Untergruppe haben, die sich stark mit den AfD-Wählern überlappt, Infektionsschutzmaßnahmen ablehnt und gegen Impfungen ist. Sie würde jede künftige Pandemie politisch in der Bewältigung erschweren."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.