Corona: Wenn Frühling nicht mehr riecht
9. Mai 2021Erst bemerkte sie gar nichts. Doch nach ein paar Tagen dämmerte Anne-Sophie Leurquin, dass etwas Gewaltiges fehlte in ihrem Leben. Ihr Kaffee am Morgen roch nicht mehr nach gerösteten Bohnen, ihre Seife nicht mehr nach Lavendel und Rose, ihr Basilikum auf dem Kühlschrank nicht mehr nach Frische. Stattdessen war da einfach nur noch ein stumpfes Nichts.
Als die Belgierin Ende Oktober 2020 positiv auf COVID-19 getestet wurde, fühlte sie sich unendlich müde. Und: Auf einen Schlag war ihr Geruchssinn komplett weg. "Manchmal denke ich, dass ich eine Art Depression habe", erzählt sie der DW fast ein halbes Jahr später in ihrer Brüsseler Wohnung.
Nach einiger Zeit kamen einige Gerüche zurück, viele davon verzerrt. Der Fachbegriff dafür ist Parosmie, Riechstörung, im Vergleich zur Anosmie, ein Begriff, der den Verlust des Geruchssinns bezeichnet.
Auf einmal stinkt das Rosen-Parfum
Anne-Sophie Leurquin hat alle Düfte aus ihrem Umfeld verbannt, die sie vor einigen Monaten noch "so geliebt” hat. Das Parfum ihres Freundes, ihr parfümierter roter Lippenstift, ihre Duftkerzen und ihre eigene Parfumsammlung. Für sie haben sich diese Düfte in Gestank gewandelt. "Ein bisschen wie eine Windel. Ein klein wenig gut, aber trotzdem wie Aa", sagt sie über ihr einst liebstes Rosenparfum.
Störungen des Geruchssinns gehören zu den häufigsten Folgen einer COVID-19-Erkrankung, auch wenn Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, was die Prozentzahl der Betroffenen angeht. Bisher sind sich Forscherinnen und Forscher noch nicht einig, was genau dazu führt.
Caroline Huart, HNO-Ärtzin am UCL-Klinikum in Brüssel, behandelt Anne-Sophie Leurquin und nennt zwei mögliche Gründe: Einige Studien zeigten, dass das Virus Zellen befällt, welche die Geruchsneuronen in der Nase umgeben. Eine weitere Hypothese: "Die Geruchsneuronen selbst werden vom Virus attackiert." Dadurch könne SARS-CoV-2 direkt in den Riechkolben vordringen, dem Mittler zwischen Nase und Gehirn.
Abgeschnitten von Erinnerungen
Jean-Michel Maillard kann die Gefühle von Menschen wie Anne-Sophie Leurquin sehr gut nachvollziehen. Nach einem Sturz auf den Hinterkopf vor mehr als fünf Jahren hat der Franzose seinen Geruchssinn komplett verloren.
Die Gerüche seiner Söhne, und seiner Frau fehlten ihm am meisten. "All die Gerüche, die einem das Gefühl geben, am Leben zu sein”, sagt Maillard im Gespräch mit der DW. Und all die Erinnerungen, die er mit bestimmten Düften verbinde: Gerüche, die ihn früher in die Waschstube seiner Großmutter zurückreisen ließen. In die Grundschule. Zu seinem Vater. Davon sei er jetzt "abgeschnitten”.
Seine Leidenschaft zu kochen will Maillard sich aber nicht vermiesen lassen. Auch wenn seine Mahlzeiten inzwischen eher fad schmecken, da die Millionen Riechzellen in der Nase den Geschmackssinn entscheidend bestimmen.
Maillard muss sich mit Salzigem und Süßem begnügen. In der Küche seines Hauses in der Normandie zeigt er auf ein Schälchen, das randvoll gefüllt ist mit knallblauen Herzen. Süßigkeiten seien jetzt seine Sünde, sagt er.
Wut wandelt sich in eine Idee
Nach seinem Unfall war Jean-Michel Maillard vor allem eines: wütend, weil ihm niemand helfen konnte, auch wenn er mit seinem Leiden von Arzt zu Ärztin tingelte. Doch irgendwann schlugen Wut und Trauer um - in eine Idee.
Er stieß auf Forscher in Deutschland und Frankreich, die ihm und anderen - geschätzt haben fünf Prozent der französischen Bevölkerung einen gestörten Geruchssinn - Hoffnung gaben. Mit einem Riechtraining aus Geruchskonzentraten.
Maillard fing an, seine Nase zu trainieren. Mit Kaffeebohnen, Rose, Zitrone, Eukalyptus. Inzwischen kann er morgens wieder eine ganz leichte Note riechen, wenn er seinen Kaffee trinkt. Ihm ist klar, dass er trotz des Trainings immer nur einen winzigen Bruchteil dessen wahrnehmen wird, was gesunde Menschen riechen können. Sein Riechvermögen wurde durch den Unfall zu stark geschädigt.
Trotzdem gründete er vor dreieinhalb Jahren den Verein "Anosmie.org". Er will anderen Betroffenen helfen und deutlich machen, wie wichtig und schön es ist, über einen intakten Geruchssinn zu verfügen.
"Die meisten entdecken ihn erst, wenn sie ihn verloren haben”, sagt Maillard. Abgesehen von den angenehmen Düften führt der fehlende Geruchssinn auch dazu, dass der eigene Körpergeruch nicht mehr wahrgenommen werde könne, genauso wie Gerüche, die Gefahr signalisieren, wie etwa Rauch.
Auch wenn Maillard hofft, dass die Pandemie bald ein Ende nimmt, ist die neue Aufmerksamkeit rund um Geruch und Geschmack ein Glücksfall für ihn und viele andere Betroffene. Davor habe sich niemand so richtig für ihr Leiden interessiert, es nicht ernst genommen, erklärt der Franzose.
Seit mehr als einem Jahr nun sitzt er jeden Abend vor dem Computer, mehrere Stunden am Wochenende, hält Video-Konferenzen zum Thema ab, betreibt Lobbyarbeit und versucht, Menschen zu motivieren, die wegen COVID-19 auf einmal nicht mehr riechen können, ein entsprechendes Training auszuprobieren.
Mit Training wieder riechen lernen
In Brüssel trainiert auch Anne-Sophie Leurquin ihre Nase - gemeinsam mit ihrer Ärztin Caroline Huart. Die erzählt, Studien belegten, dass die Riechschule über einen Zeitraum von einigen Monaten hinweg positive Ergebnisse erziele.
Im Idealfall sollen Patientinnen wie Leurquin die Gerüche zweimal täglich riechen - mit geschlossenen Augen. "Es ist sehr wichtig, sich zu konzentrieren, weil das Gehirn die Erinnerung an die Gerüche aktivieren muss”, sagt Huart.
Im Fall von Leurquins Parosmie, den verzerrten Gerüchen, muss das Gehirn wieder lernen, dass Rosen nach Rosen riechen, nicht nach Abwasser. Ein weiterer Hoffnungsschimmer: Riechzellen erneuern sich regelmäßig.
Leurquin sagt, sie habe trotzdem Angst, nie wieder so riechen zu können wie früher. Die Chance, dass es Aussicht auf Besserung gebe, lasse sie aber hoffen.