1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Corona: Wer hatte Kontakt mit wem?

Christina zur Nedden
28. Mai 2020

Detektive der Coronakrise: Wie "Contact Tracer" am Telefon die Spur des Virus verfolgen, um die Infektion aufzuhalten. Beispiele aus San Francisco, Singapur und Bayern zeigen, was besser funktioniert als bei einer App.

Deutschland Corona-Pandemie Fahrrad | München
Schwierige Kontaktverfolgung: Zahlreiche Ausflügler schieben ihr Rad über den Flauchersteg an der IsarBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Wenn Lucia Abascal einen Klienten anruft, fragt sie ihn zunächst, ob er ein Zuhause hat, und genug Nahrungsmittel für die kommenden 14 Tage vorhanden sind. "Es gibt viele Obdachlose in San Francisco. Nicht jeder kann sich eine Quarantäne leisten," weiß sie.

Lucia Abascal, die in Mexiko geboren wurde und heute als Ärztin in den USA arbeitet, spricht mit Klienten oft in ihrer Muttersprache. "Die Mehrheit der gefährdeten Menschen in der Bay Area sind Latinos. Einige müssen das Haus verlassen, um zu arbeiten und ihre große Familie zu versorgen. Das macht sie anfällig dafür, sich mit dem Virus anzustecken."

Abascal arbeitet als Kontaktverfolgerin oder "Contact Tracer”. Sie gehört zu einem 40-köpfigen Team in San Francisco, das aus Beamten des öffentlichen Gesundheitswesens, Ärzten, Medizinstudenten, aber auch aus derzeit arbeitslosen Bibliothekaren besteht. Sie ruft Kontakte von Menschen an, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, und veranlasst Tests für sie. Bei Bedarf kann sie ihnen Lebensmittelpakete und Medikamente schicken lassen oder im Falle von Obdachlosigkeit ein Hotelzimmer organisieren.

Die richtigen Fragen stellen

Kontaktverfolgerin Lucia AbascalBild: Lucia Abascal

Zu Beginn jedes Tages erhält Abascal eine Liste von Personen, die sie anrufen soll. Sie arbeitet in Vier-Stunden-Schichten von zu Hause aus. Bis vor kurzem erhielten Klienten ohne Symptome jeden Tag eine automatisierte SMS, um ihren Gesundheitszustand zu überprüfen.

Jetzt werden alle Kontakte einer infizierten Person zweimal getestet, zu Beginn ihrer zweiwöchigen Quarantäne und am Ende noch einmal, auch wenn das erste Testergebnis negativ war. Jeder Anruf soll 15 Minuten dauern, aber oft gibt es mehr Fragen als erwartet. "Einige sind besorgt, dass wir ihren Einwanderungsstatus überprüfen, andere fragen, ob sie das Virus mit pflanzlicher Medizin bekämpfen können", sagt Abascal.

Abascal arbeitet nicht mithilfe von COVID-19-Apps, obwohl Technologieunternehmen der Initiative der University of California San Francisco (UCSF) und der örtlichen Gesundheitsbehörde mehrfach ihre Unterstützung angeboten haben. Sie speichert bearbeitete Fälle mit einer Open-Source-Software, die sich im Kampf gegen Ebola bewährt hat.

Bei der Ebola-Epidemie 2014 in Sierra Leone hat sich der Einsatz von Kontaktverfolgern bereits bewährtBild: DW/Abu-Bakarr Jalloh

Armut überfordert App

"Apps können dir sagen, ob eine Person bei Starbucks war, aber sie können dir nicht sagen, ob sie vergeblich versucht hat, sich testen zu lassen oder ob sie Schwierigkeiten hat, für ihre Familien zu sorgen", sagt Abascal. "Der Job ist zu komplex, als dass Technologie ihn übernehmen könnte".

Genau wie das technisch versierte San Francisco setzt auch Singapur Kontaktverfolger ein anstatt sich ausschließlich auf Apps zu verlassen. Edwin Philip arbeitet seit Anfang Februar als "Contact Tracer" im General Hospital Singapore. Anders als Lucia Abascal, die bisher nicht getestete Kontakte von Infizierten anruft, muss er diese Kontakte zunächst identifizieren, indem er COVID-19-Patienten detektivische Fragen stellt.

"Ich frage sie, was sie zum Frühstück, Mittag- und Abendessen gegessen haben. Ich frage, wem sie das Salz oder die Ketchupflasche gereicht haben, wie lange sie mit anderen gesprochen haben. Das gibt mir einen Hinweis, wen sie angesteckt haben könnten". Philip fährt fort und fragt, ob sie Kirchen, Moscheen, Tempel oder Einkaufszentren besucht haben. "Einige von ihnen schicken mir Fotos all ihrer Taxi- und Restaurant-Quittungen, die manchmal verblasst sind. Ich muss sie einscannen und lesbar machen", sagt Philip.

Kontaktverfolger Edwin Philip in SingapurBild: Edwin Philip

Gefährdete Gastarbeiter in Singapur

Wenn sich die Menschen nicht an alles erinnern, spricht Philip mit ihren Ehepartnern. "Sie schauen in ihre Kalender, manche stellen sogar Excel-Tabellen mit allen Aktivitäten zusammen." Die meisten Infektionen treten in den überfüllten Arbeiterwohnheimen auf, in denen 300.000 der 1,4 Millionen Gastarbeiter der Stadt untergebracht sind.

Mindestens 23.000 von ihnen sind infiziert. Da die meisten von ihnen aus Südasien kommen, kämpft Philip mit Sprachbarrieren. "Zu Beginn des Ausbruchs waren die meisten Infizierten aus China, und ich, so wie viele Singapurer, spreche Chinesisch. Ich kann jedoch kein Bengali, und Übersetzer sind Mangelware", sagt Philip.

Wie Lucia Abascal in den USA arbeitet auch Philip nicht mit Apps. Die Regierungsapp "TraceTogether" wird als zweitrangig in der Coronavirus-Bekämpfung gesehen. "Contact Tracing" am Telefon hat sich zur Bekämpfung von Infektionen als wirksam erwiesen, seit es während der SARS-Epidemie 2003 eingesetzt wurde. Andere asiatische Länder wie China und Südkorea verlassen sich ebenfalls auf die erprobte Methode.

Die Gastarbeiter aus Bangladesch, Indien und China wohnen in Singapur auf sehr engem Raum zusammenBild: Reuters/E. Su

"Die meisten Menschen sind gefasst"

In Bayern haben seit Ende April rund 2500 Kontaktverfolger ihre neue Arbeit aufgenommen. Eine von ihnen ist Franziska Weiß. Die angehende Beamtin wurde gebeten, ihre Ausbildung zur Rechtspflegerin zu unterbrechen, um als Kontaktverfolgerin für die Region Nürnberger Land zu arbeiten. Zu ihrem Job gehört es auch, den Leuten ihre Testergebnisse mitzuteilen. "Die meisten Menschen sind gefasst, wenn ich ihnen sage, dass sie infiziert sind. Aber sie haben viele Fragen, und ich spreche durchschnittlich eine halbe Stunde mit ihnen", erzählt sie.

Im Anschluss ruft Franziska Weiß Kontakte von Infizierten der vergangenen 48 Stunden an. Diese müssen 14 Tage in Quarantäne bleiben. Weiß ruft jeden Tag an und fragt, wie es ihnen gesundheitlich geht. Wenn sie Symptome entwickeln, wird ein Test zu Hause oder in einem Labor veranlasst.

Auch wenn Weiß nur die Historie der letzten zwei Tage abfragt, und nicht die der vergangenen zwei Wochen wie in Singapur: Viele Menschen erinnern sich nicht mehr an alles, was sie gemacht haben. "Wenn sich ältere oder demente Menschen nicht erinnern können, frage ich ihre Familienmitglieder". Obwohl sie den ganzen Tag am Telefon ist, genießt Weiß auch ihre Arbeit: "Ich rufe die Menschen auch an, um ihnen mitzuteilen, dass ihre Quarantäne endet. Das ist immer ein schöner Moment".

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen