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Corona: Wie der Lockdown Kinder krank macht

8. Februar 2021

Kein Kindergarten oder Schule, keine Treffen mit Freundinnen und Freunden, kein Sport, keine Musik – die Folgen der Corona-Maßnahmen sind für Kinder und Jugendliche dramatisch.

Symbolbilder Kinder mit Mundschutzmasken
Bild: picture-alliance/abaca/A. Marechal

Es ist spät im Dezember, als Axel Gerschlauer merkt, dass sich da einiges zusammenbraut. In den letzten drei Wochen vor Weihnachten kommen gleich drei Jugendliche in die Praxis des Bonner Kinderarztes, die sich schwer an den Unterarmen geritzt haben. Drei Jugendliche in drei Wochen – normalerweise sieht er so etwas alle drei oder alle sechs Monate. "Diese Größenordnung", sagt Gerschlauer, "da habe ich wirklich gemerkt, hier läuft gewaltig was schief."

Dabei ist es noch nicht einmal so, dass Gerschlauer zurzeit alle seine jugendlichen Patienten, die Kinder und die Säuglinge zu Gesicht bekommt. Einige meiden seine Praxis aus Angst vor einer Corona-Ansteckung. Dafür steht bei Gerschlauer das Telefon nicht mehr still, verzweifelte und gestresste Eltern suchen Hilfe in der telefonischen Sprechstunde.

"Die Themen haben sich total verschoben, hin zu psychischen Belastungen. Ob das jetzt Angststörungen sind, Konzentrations- oder Schlafstörungen, das hat in den letzten Monaten massiv zugenommen", sagt der Arzt. In Deutschland gelten seit Mitte Dezember vergangenen Jahres verschärfte Corona-Maßnahmen. In vielen Bundesländern sind Schulen und Kindergärten geschlossen. Auch Freizeitaktivitäten wie Mannschaftssport sind nicht erlaubt.

Kinderärzte berichten von einer Verzögerung in der Entwicklung durch Corona

Gerschlauer ist gleichzeitig auch Pressesprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte für die Region Nordrhein. Wenn also jemand eine Ahnung hat, wie es den 13,5 Millionen Minderjährigen in Deutschland in der Corona-Krise geht, dann der Kinderarzt aus Bonn.

"Den ersten Lockdown haben manche Familien noch genossen. Jetzt finden es alle furchtbar" - Axel GerschlauerBild: Privat

Was er von seinen hunderten Kollegen aus ihrem Berufsalltag hört, klingt von Tag zu Tag dramatischer: "Verhaltensauffälligkeiten, verzögerte Sprachentwicklung, viele Kinder sind auch sehr viel dicker geworden. Massiver Medienkonsum. Und Eltern, die nicht mit den Kindern zu den Vorsorgeuntersuchungen kommen." Das bestätigte auch eine Umfrage unter 347 Psychotherapeuten.

Die ganzen Auswirkungen des Lockdowns für Kinder und Jugendliche, glaubt Axel Gerschlauer, können er und seine Kollegen zum jetzigen Zeitpunkt nur erahnen. Denn da seien ja auch noch die vielen Kindesmisshandlungen, von denen auch die Kinderärzte nur einen Bruchteil mitbekommen.

Deutschland wird, so viel steht fest, viel Zeit und Geld investieren müssen, um Hunderttausende von Mädchen und Jungen wieder einigermaßen in die Spur zu bekommen. "Das wird eine Riesenaufgabe. In den nächsten zwei Jahren werden wir einen Plan brauchen und massiv Personal ausbauen müssen. Vor allem bei den Psychotherapeuten brauchen wir 50 Prozent mehr", sagt Axel Gerschlauer.

Kinder und Jugendliche suchen Corona-Hilfe bei der "Nummer gegen Kummer"

Die Kinder und Jugendlichen, die selbst merken, dass sie Hilfe brauchen und ihr Schicksal erst einmal in die eigenen Hände nehmen, können in Deutschland seit 40 Jahren eine Telefonnummer wählen: 116111. Die "Nummer gegen Kummer". Früher hatten die ehrenamtlichen Berater ein Ohr für den ersten Liebeskummer, eine 6 in der Schule oder auch den Streit mit den Eltern.

Heute sind sie zusätzlich noch erste Ansprechpartner für die Folgen des Corona-Lockdowns. Kinder, die gerade einmal acht Jahre alt sind, melden sich auch in Zeiten der Pandemie. "Die Themen psychische Gesundheit und Einsamkeit haben in den letzten Monaten massiv zugenommen. Und wir haben auch verstärkt Kinder, die über Gewalterfahrungen berichtet haben", sagt Anna Zacharias.

"Früher riefen uns vor allem Mädchen an, in den letzten Jahren immer mehr Jungen" - Anna ZachariasBild: Privat

Die Fachreferentin für Öffentlichkeitsarbeit bei "Nummer gegen Kummer" hat gerade alle Hände voll zu tun, weil die Organisation plötzlich auch in den Medien ein großes Thema ist. Eine deutsche Fernsehmoderatorin hatte in einem emotionalen Appell gegen die Corona-Maßnahmen die 461.000 Kinder und Jugendlichen erwähnt, die im vergangenen Jahr die 116111 angerufen hatten.

Massiver Anstieg bei den Online-Chats und am Elterntelefon

Vielleicht ist das einer der wenigen positiven Aspekte der Corona-Krise: dass die "Nummer gegen Kummer" noch bekannter wird als sie durch Aktionstage, Flyer und Schulbesuche ohnehin schon ist. "Was wir 2020 gesehen haben, ist vor allem ein sprunghafter Anstieg der Online-Beratungen um ein Drittel gegenüber 2019", sagt Zacharias.

Soziale Folgen der Corona-Krise

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Denn neben den 3000 ausgebildeten Telefon-Seelsorgern helfen heute auch 80 Mitarbeiter per Online-Chat gegen den Kummer. Gerade in Corona-Zeiten sind sie gefragter denn je, in den vergangenen Monaten wurde massiv Personal rekrutiert. "Die Kinder schreiben, hier sind gerade alle zu Hause, und deswegen kann ich nicht vertraulich mit jemandem am Telefon sprechen", sagt Zacharias.

Doch nicht nur die Kinder selbst wenden sich an das Kummer-Telefon. Besorgte Mütter und Väter warten vielleicht noch ab, bis die Kinder im Bett sind, und wählen dann die Nummer des eigens eingerichteten Elterntelefons. "Die Beratungen für die Eltern sind 2020 um 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr in die Höhe geschossen", sagt Anna Zacharias.

Und dabei geht es längst nicht mehr um die Pubertät, den Trennungsschmerz nach einer Beziehung oder Konflikte in der Familie. Sondern um den Lockdown, der Eltern und ihren Kindern jeden Tag ein wenig mehr an den Nerven zehrt. "Diese Woche hat sich jemand gemeldet, der gesagt hat, dass er ganz neidisch auf Österreich ist, weil die jetzt endlich ihre Corona-Maßnahmen gelockert haben."

"Für die ganz Kleinen ist Corona schon ein Stück Normalität"

Jugendliche, die sich die Unterarme ritzen, Achtjährige, welche die "Nummer gegen Kummer" wählen – doch was macht die Corona-Krise eigentlich mit den ganz Kleinen? Ulla Baumgärtner-Schmäing, die seit 18 Jahren für den Deutschen Kinderschutzbund arbeitet, sagt: "Wenn die Eltern wegen Corona ängstlich sind, wirkt sich das direkt auf die Kinder aus."

"Viel damit zu tun, den Familien Zuversicht zu geben" - Ulla Baumgärtner-Schmäing (l.) mit Erzieherin Annabelle LorenzBild: Oliver Pieper/DW

Die Sozialpädagogin erzählt von einer Mutter, dessen jüngster Sohn partout nicht in die Kindertagesstätte wollte – aus Angst vor Corona. "Ich habe ihr gesagt, dass ich mir das gar nicht vorstellen kann", so Baumgärtner-Schmäing, "und dann stellte sich heraus, dass die Mutter riesige Angst vor dem Virus hat. Und dass das Kind das mitbekommt und sich diese Furcht überträgt."

Sie kämpft jeden Tag dagegen an. Baumgärtner-Schmäing betreut einen Eltern-Kind-Treff in Bonn, derzeit besuchen 20 Kinder, die meisten unter drei Jahren, die Einrichtung. Also auch Kleinkinder, die es gar nicht anders kennen, als dass die ganze Welt eine Maske trägt, dass man nicht alle Kinder gleichzeitig treffen kann und dass man sich dauernd die Hände waschen muss.

Anscheinend kommen gerade deshalb diese kleinen Mädchen und Jungen besser mit der Corona-Krise zurecht als zum Beispiel ihre älteren Geschwister, die Baumgärtner-Schmäing oft mit traurigen Augen anschauen. "Die ganz Kleinen integrieren das sogar beim Spielen, die Puppen und Teddybären bekommen dann auch eine Maske. Für sie ist Corona in gewisser Weise schon ein Stück Normalität."

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