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GesellschaftEuropa

Wie Jugendliche psychisch leiden

Rose Patrice Birchard
3. April 2021

Die Pandemie hat auch zu einem sprunghaften Anstieg psychischer Erkrankungen geführt. Besonders betroffen sind dabei Kinder und Jugendliche. Die DW hat einige von ihnen in Belgien besucht.

Belgien Psychiatrische Einrichtung für Jugendliche
Bild: DW

Eingebettet in das grüne Städtchen Braine l'Alleud in Belgien liegt ein Krankenhaus für Jugendliche in akuter psychischer Notlage. Hier erhalten sie besondere Betreuung und Unterstützung - oft nach Selbstmordversuchen oder traumatischen Erfahrungen.

"Corona war einfach zu viel für mich, ich bin komplett zusammen gebrochen ", erzählt die 17-jährige Alexandra*, die im Februar in die Einrichtung kam, nachdem ihr die Ereignisse des Jahres 2020 einfach über den Kopf gewachsen waren.

"Es war sehr stressig, weil mein Vater zu einer Hochrisikogruppe gehört. Also musste ich größtenteils von meiner Familie isoliert werden", erzählt sie der DW. "Ich musste alleine essen, alleine bleiben, ich konnte meine Eltern nicht umarmen. Es war so einsam, ich fühlte mich von der Welt abgeschnitten."

Alexandra ist ein Adoptivkind und leidet seit langem unter Verlustängsten. Die Einschränkungen durch das Coronavirus, sagt sie, hätten ihre Probleme zwar nicht verursacht. Aber die Pandemie habe ihr mühsam aufrechterhaltenes seelisches Gleichgewicht komplett zum Einsturz gebracht.

Volle Jugendpsychiatrien

Alexandra ist bei weitem nicht die Einzige, der das Coronavirus derart schwer zu schaffen macht. Seit Januar sind die Anfragen für eine Aufnahme in diese psychiatrische Einrichtung sprunghaft angestiegen. "Auch alle anderen Stationen in Belgien sind voll", erklärt Stationsleiterin Sophie Maes zwischen Telefonaten und therapeutischen Gesprächen. "Sie können keine neuen Patienten aufnehmen, aber es kommen immer neue Anfragen rein. Nur: Für wen soll man sich entscheiden? Für den selbstmordgefährdeten 15-Jährigen oder den selbstmordgefährdeten 16-Jährigen? Es ist eine unmögliche Wahl", sagt sie und schüttelt den Kopf.

Sophie Maes leitet eine Station in einem psychiatrischen Krankenhaus für Jugendliche in BelgienBild: DW

Viele der Teenager, die jetzt Hilfe suchen, kämen unter normalen Umständen mit ihren Emotionen klar, so Maes. Aber nach einem Jahr Wechsel zwischen Präsenzunterricht und Homeschooling, nach immer wieder enttäuschten Hoffnungen und Monaten ohne Sozialkontakte kämen sie nicht mehr zurecht.

"Beim Diskurs um das Coronavirus und die Jugendlichen geht es sehr viel auch um Schuld", sagt Maes. "Ganz oft hören sie: 'Du selbst bist nicht krank, du bist auch nicht in Gefahr, aber du bist eine Gefahr für andere, also musst du Opfer bringen, um die zu schützen, die du liebst.' Das kann eine wirklich giftige Kombination sein."

Auch die Zahl der Missbrauchsfälle steigt

Charleroi ist nur 30 Autominuten von Braine l'Alleud entfernt. Hier, in der jugendpsychiatrischen Klinik "Vincent Van Gogh", spielt der 12-jährige Marc* gerade ein Brettspiel. "Ich bin hierhergekommen, weil ich eine Pause brauchte", sagt er achselzuckend. "Wissen Sie, im Lockdown ist es nicht gerade einfach mit meiner Familie ...", fügt er hinzu, ohne näher darauf einzugehen.

Krankenhauspsychiater Rudy Guillaume erklärt, dass viele der Kinder hier aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen. "Mindestens ein Drittel unserer neuen Patienten", so Guillaume, "leidet unter posttraumatischem Stress, nachdem sie in ihren Familien schwer vernachlässigt oder missbraucht wurden. Oft haben diese Misshandlungen mit dem engen Zusammenleben während des Lockdowns zu tun. Die Probleme der Teenager, die wir jetzt hier unterbringen können, sind komplexer als die, die wir normalerweise behandeln."

Teenager in ganz Europa haben zu kämpfen

Das sei keineswegs nur ein belgisches Phänomen, erklärt Jana Hainsworth, Generalsekretärin der gemeinnützigen Kinderrechtsorganisation Eurochild. Ihre Organisation, die Kinderhilfsorganisationen und Kinderrechtsgruppen in 35 europäischen Ländern vertritt, schlägt wegen der Auswirkungen von COVID-19 auf die psychische Gesundheit von Menschen unter 18 Jahren auf dem ganzen Kontinent Alarm.

Jugendlichen, die psychisch nicht ganz stabil sind, macht die Pandemie besonders zu schaffenBild: DW

Eurochild veröffentlichte erst kürzlich eine EU-weite Studie unter 10.000 befragten Kindern. Jedes fünfte gab an, sich die ganze oder die meiste Zeit unglücklich zu fühlen. Hamburger Forscher haben derweil herausgefunden, dass der Anteil der deutschen Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen von 10 Prozent vor der Pandemie auf 18 Prozent bis Mitte 2020 angestiegen ist.

Europas Regierungen, sagt Hainsworth im Gespräch mit der DW, hätten in dieser Krise schon viel früher mehr auf die Jugendlichen hören müssen. "Es gab unverhältnismäßige Maßnahmen, deren Auswirkungen auf das tägliche Leben der Kinder so dramatisch waren, dass die Narben davon noch lange nicht verheilen", ist sie überzeugt. "Hätte man die Perspektive der Kinder berücksichtigt, dann wären einige dieser Maßnahmen nicht so dramatisch ausgefallen."

Neue EU-Strategie zu Kinderrechten

Die Europäische Kommission präsentierte letzte Woche ihre erste EU-weite Strategie zum Schutz von Kinderrechten und versprach, den Zugang zu psychosozialer Unterstützung zu erleichtern sowie eine neue EU-Plattform für die Beteiligung von Kindern einzurichten.

Der EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, Nicolas Schmit, sagte, die bestehenden Ungleichheiten unter den unter 18-Jährigen hätten sich im letzten Jahr verschlimmert.

"Wir müssen diesen gefährlichen Kreislauf durchbrechen und sicherstellen, dass bedürftige Kinder unabhängig von ihrer Herkunft Zugang zu einer gesunden Mahlzeit, Bildung, Gesundheitsversorgung und angemessenem Wohnraum haben. Die Kommission ist bereit, die Mitgliedstaaten auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen, um das Leben der Kinder wirklich zu verbessern", sagte er. Ein Teil dieser Unterstützung kommt in Form des Europäischen Sozialfonds Plus, der Projekte finanziert, die sich auf soziale Eingliederung und Armutsbekämpfung konzentrieren.

Schutzwälle für den psychischen Tsunami

 "Wir müssen Räume für Spiel, Freude und Konversation schaffen, damit Jugendliche wieder Anschluss an das soziale Gefüge des Lebens finden können", fordert Stationsleiterin Sophie Maes im belgischen Braine l'Alleud . "Sonst wird sich ihre psychische Gesundheit weiter verschlechtern und die Hilfsdienste völlig überlastet werden."

Sie befürchtet einen Anstieg der Selbstmordrate, wenn sich nicht bald etwas ändere. "Es fühlt sich an, als stünden wir am Beginn eines Tsunamis, und müssten dringend Schutzwälle bauen."

Doch angesichts der steigenden Infektionszahlen im März schloss die Regierung gerade erst wieder die Schulen und die meisten außerschulischen Aktivitäten. Pro Kopf hat das Land eine der weltweit höchsten Covid-19-Sterberaten.

Gegen den Frust

Die 19-jährige Lili* ist seit fast einem Jahr auf der Station Braine l'Alleud und fühlt sich dort wie eine Art große Schwester. Lili versorgt  andere Jugendliche mit Ratschlägen und Umarmungen, füttert das Meerschweinchen der Station und zeigt ihre Boxkünste an einem ledernen Boxsack, der zur Frustbewältigung in einem Nebenraum hängt.

Frust ablassen am SandsackBild: DW

Nach außen fröhlich, versucht sie hier eine traumatische Kindheit zu verarbeiten. "Ich habe Grausames erlebt und ich habe Angst vor der Welt da draußen," erzählt sie in einem stilleren Moment.

Lili denkt lieber nicht an die, die jetzt keine Hilfe finden. Allen anderen Jugendlichen in der Pandemie rät sie: "Verbringt nicht zu viel Zeit mit sozialen Medien, versucht, etwas Kreatives oder Sportliches zu finden, was euch Spaß macht. Das hilft." 

"Ich hoffe, dass alle jungen Menschen durchhalten und es schaffen", sagte sie. "Auf der anderen Seite wartet die Freiheit auf uns. Ich habe große Hoffnungen für uns alle."

*Namen wurden geändert, um die Privatsphäre der Teenager zu schützen.

 

Aus dem Englischen von Thomas Latschan.

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

 

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