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PolitikEuropa

Coronavirus: Belgien "vor dem Tsunami"

Barbara Wesel
20. Oktober 2020

Belgien ist europaweit besonders stark vom Coronavirus betroffen. Die Regierung versucht mit der Schließung der Gastronomie, Heimarbeit und Maskenpflicht dagegen zu steuern - doch die Menschen bleiben skeptisch.

BdTD | Belgien Brüssel | Maaaneken Pis mit Arztkittel
Der Manneken Pis, eines der Wahrzeichen Brüssels, mit Kittel und Maske: Belgien ist stark vom Coronavirus betroffenBild: Getty Images/AFP/BELGA/N. Maeterlinck

Die Stühle auf der Terrasse werden sie wohl erstmal nicht mehr brauchen im "Cadre Noir", Wirt Arias packt sie deshalb in den Lieferwagen. Die Eckkneipe seiner Familie im Brüsseler Viertel Schaarbek ist Treffpunkt rumänischer Handwerker, die in der Umgebung wohnen. Die müssen ihr Feierabendbier jetzt zu Hause trinken, ebenso wie der ältere Stammgast mit Hund: "Alles vorbei, oder? Ihr müsst dicht machen?", fragt er. "Die Regierung hat das so angeordnet, für vier Wochen erstmal. Aber wer weiß ...", sagt der Wirt.

"Sie machen irgendetwas, ohne genau zu wissen, wozu es gut ist", vermutet Arias, der nicht mit ganzem Namen genannt werden möchte. Die Politiker seien eben in Panik. Dabei hätten die Restaurantbesitzer im Sommer noch investieren müssen, überall Trennscheiben eingebaut und draußen Zelte aufgestellt, um den Gästen Corona- und Regenschutz zu bieten. Es wird ein bisschen Ausfallgeld von den Behörden geben, aber das komme spät und reiche kaum für die Miete. Ob sie diesen zweiten Lockdown überleben und in diesem Jahr wieder aufmachen können? "Die Hoffnung stirbt zuletzt", sagt der Wirt philosophisch.

"Die Hoffnung stirbt zuletzt": Noch ist unklar, wie lange sich die Gastronomen in Brüssel über Wasser halten können Bild: Nicolas Landemard/MAXPPP/picture-alliance

Eine Ecke weiter hat die Weinbar schon vor dem Wochenende aufgegeben: "Sorry, closed", heißt es lapidar. Und die Traditionsbrasserie schräg gegenüber, wo sich die besserverdienenden Bürger und Beschäftigten aus dem nahen Europaviertel treffen, kann auch keine Gäste mehr mit den "Frischen Muscheln der Saison" anlocken. Weiter im Stadtzentrum, in den Marollen, hat sich eine alte Brüsseler Kneipe mit Bier und uriger Küche über Nacht in einen Trödelladen verwandelt. Der Barmann putzt noch die Bierhähne: "Die brauchen wir jetzt eine Weile nicht mehr, vielleicht auch nie wieder".

Experten fürchten eine Katastrophe

Das schwer geplagte Belgien hat immer neue Rekordzahlen zu verzeichnen. Zwischen dem 9. und dem 15. Oktober wurden durchschnittlich knapp 7900 Neuinfektionen pro Tag registriert. Fast 2500 Corona-Patienten liegen in den Krankenhäusern, über 400 in Intensivpflege.

"Wir stehen wirklich kurz vor dem Tsunami", sagt Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke. Die Wallonie und Brüssel seien die meist betroffenen Regionen in ganz Europa: "Derzeit kontrollieren wir noch was passiert, aber nur unter enormen Schwierigkeiten." Und man stehe kurz davor, die Kontrolle ganz zu verlieren. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen würden schon wieder unter enormem Stress arbeiten. Wenn die Zahlen weiter steigen, müsse man andere medizinische Behandlungen einstellen, was auch gefährlich sei.

In Brüssel sind derzeit fast ein Viertel der Getesteten COVID-positivBild: picture-alliance/dpa/E. Lalmand

Vandenbroucke hat nur eine Botschaft an die Belgier: "Schützt euch und eure Nächsten!" Zum üblichen Maskengebot in Läden und Verkehrsmitteln kommt die Aufforderung, sich nur noch mit je einer Person außerhalb der engsten Familie zu treffen. "Niemand ist an diesem Virus schuld", sagt der Minister auf die Vorwürfe, vor allem junge Leute würden durch mangelnde Vorsicht zu den hohen Infektionszahlen beitragen. "Es geht uns alle an, diese Situation in den Griff zu bekommen."

Heimarbeit soll so weit möglich wieder zum Regelfall werden, verfügt die Regierung. Aber Läden, Museen sowie Schulen und Universitäten bleiben weiter geöffnet. Und eine totale Ausgangssperre ab 21.00 Uhr, wie sie seit dem Wochenende in Frankreich gilt, lehnt Vandenbroucke ab: "Wir wollen nicht das ganze Leben still legen. Es gibt nämlich zwei Feinde: Das Virus und die Einsamkeit, die Depression". In Belgien könnten die Leute wenigstens abends noch spazieren gehen. 

Regionales Durcheinander auch in Belgien

Die Befürchtung: In zwei Wochen sind die Krankenhäuser in Belgien wieder voll - wenn die Ansteckungungsrate nicht sinktBild: Getty Images/AFP/K. Triboillard

Trotz dieser Ansagen: Tatsächlich sind die belgischen Regionalregierungen und Kommunen über die Einzelheiten der Vorschriften uneins. Die Stadt Charleroi hat zum Beispiel jetzt eine totale Maskenpflicht verhängt, die aber schon im nächsten Ort nicht mehr gilt. Deswegen hat die Zentralregierung in Brüssel jetzt auch einen ersten "Corona-Kommissar" eingesetzt, der widersprüchliche regionale Regeln vereinheitlichen und den Kontakt zwischen den verschiedenen Ebenen von Regierung und Verwaltung herstellen soll.

"Es ist schlimmer als am 18. März, wo wir den totalen Lockdown verkündet hatten", sagt Premierminister Alexander de Croo. Es gebe derzeit drei Mal so viele Intensivfälle wie damals, die Situation in den Krankenhäusern sei angespannt: "Sie wird noch schlechter werden", fürchtet der Regierungschef. Seine Statistiker sagen voraus, dass Mitte November voraussichtlich alle rund 2000 Intensivbetten in Belgien belegt sein werden. 

Krankenhäuser vor dem Anschlag 

Wie ernst die Lage in den Krankenhäusern zu werden droht, zeigte auch eine kurze Arbeitsniederlegung am Erasmus Hospital in Brüssel an diesem Montag. Rund 60 Krankenpfleger und Ärzte beklagten, dass sie seit der ersten Corona-Welle im Frühjahr kein zusätzliches Material und vor allem kein Personal bekommen hätten. "Wir fallen um wie die Fliegen", sagte eine der Organisatorinnen im Sender RTL. "Wir müssen weiter arbeiten, selbst wenn wir positiv sind und Fieber haben", erklärt Krankenpflegerin Layla, die ebenfalls ihren Nachnamen nicht nennen möchte. So würden sie dann ihre Patienten und Familien anstecken.

Die Beschäftigten von Erasmus sind wütend, dass die Versprechen vom Frühjahr nicht erfüllt wurden: "Damals haben abends immer alle für uns applaudiert", erinnert sich Layla. Mehr Krankenpfleger gebe es trotzdem nicht. Chefarzt Jean-Michel Hougardy hat sich mit den Streikenden solidarisiert: "Wir brauchen unbedingt mehr Personal, für die COVID-Betten aber auch den übrigen Krankenhausbetrieb". Erste Hospitäler in Brüssel wie in Liège melden bereits, sie seien voll belegt. Im belgischen Gesundheitswesen fühlen sich viele von der Politik verlassen. Nicht nur dort haben Bürger das Gefühl, dass aus den bitteren Lektionen vom ersten Lockdown im Frühjahr nicht genügend gelernt wurde.

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