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Politik

Corona-Gefahr in Flüchtlingsheimen

Mariel Müller Mitarbeit: Oxana Evdokimova
10. April 2020

In deutschen Flüchtlingsheimen steigen die Corona-Fallzahlen. Und damit die Angst der Bewohner vor dem Virus. Die Behörden scheinen in einigen Fällen noch nach dem richtigen Umgang mit dem Virus zu suchen.

Deutschland Coronavirus Symbolbild Ankerzentrum
Bild: picture-alliance/dpa/K. J. Hildenbrand

"Nein, ich bleibe nicht hier!", schreit ein Mann. Das Bild wackelt, wütende Stimmen rufen durcheinander. Ein paar junge Männer versuchen ein Tor aufzudrücken, Polizisten werfen sich von der anderen Seite dagegen. Schließlich fällt es zu. So endet ein Handyvideo, das einen Zwischenfall in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft vor knapp zwei Wochen zeigt.

Es beginnt damit, wie ein Krankenwagen umringt von Polizisten in das Containerdorf einfährt, in dem Geflüchtete untergebracht sind. Der Polizeischutz ist nötig, weil die Bewohner wütend sind. Einer ruft: "Ihr bringt hier Corona-Leute her!" Sie haben Angst, weil im Krankentransport ein Corona-Infizierter und drei Kontaktpersonen sitzen, die ab sofort ihre neue Nachbarn sein werden. Krankenwagen und Polizei verlassen die Unterkunft wieder – die Geflüchteten müssen drin bleiben. Einige wehren sich dagegen. Ihre Unterkunft war schon ein paar Tage lang unter Quarantäne. Jetzt, befürchten die Bewohner, könnte die 14-tägige Ausgangssperre von vorne beginnen.

"Die Menschen wurden panisch"

Unwissenheit und Unsicherheit sind groß bei den Geflüchteten. "Wir hatten uns allmählich schon mit den Corona-Infizierten aus unserem Heim abgefunden, hatten uns beruhigt", sagt Anna (Name von der Redaktion geändert) der DW. "Aber dann wurden neue Familien hierher gebracht und die Lage hat sich zugespitzt. Ich habe Angst um die Kinder. Warum bringen sie infizierte Menschen hierher? Sie haben uns hier eingesperrt und obendrauf bringen sie noch Infizierte her."

Aus einem Handyvideo: Geflüchtete wollen die Neuankömmlinge aus Sorge vor Ansteckung mit dem Coronavirus nicht akzeptierenBild: Privat

Anna möchte ihre Identität geheim halten, aus Angst ihren Platz in der Flüchtlingsunterkunft zu verlieren. Sie war dabei, als sich der Vorfall ereignete. Ihre Stimme klingt aufgebracht, aber auch ängstlich am Telefon. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) erklärt auf DW-Anfrage, eine COVID-19 infizierte Person und drei Kontaktpersonen wurden verlegt, weil man sonst eine weitere Unterkunft unter Quarantäne hätte stellen müssen. In der Einrichtung aus dem Video "war eine Separierung der betroffenen Personen in eigenen Wohn- und Sanitärbereichen besser als in ihrer bisherigen Unterkunft möglich."

"Ausgiebig informiert"

Wenn die Betroffenen separiert wurden, warum durfte trotzdem niemand das Gelände verlassen?, fragt sich Anna. Als das Containerdorf wegen Corona-infizierter Bewohner ein paar Tage zuvor unter Quarantäne gestellt wurde, war das ein Rieseneinschnitt für sie – zumal ohne Vorwarnung. "Die Menschen wurden panisch, weil uns niemand vorher Bescheid gegeben hat. Wir konnten vorher nichts einkaufen. Binden und andere spezielle Produkte waren schon alle. Alle waren aggressiv und böse."

Das LAF schreibt hierzu: Aufgrund der kurzfristigen Entscheidung des Amtsarztes sei eine Mitteilung über die Quarantäne im Vorfeld nicht möglich gewesen. Die Bewohner seien nach Eintreten der Quarantäne aber durch direkte Ansprache und Kleingruppengespräche "ausgiebig informiert" worden. "Dies mag trotzdem für das subjektive Empfinden einzelner Bewohner nicht ausreichend gewesen sein", heißt es weiter.

Warten "bis alles verseucht ist - das ist nicht ethisch"

Mittlerweile steht Annas Unterkunft nicht mehr unter Vollquarantäne. Aber aktuell zwei andere Berliner Flüchtlingsheime, gibt das LAF an. In einem leben 270, im anderen knapp 100 Menschen. Zwei Wochen lang dürfen sie die Unterkunft nicht verlassen. Einkaufen und zum Arzt gehen ist nicht erlaubt, stattdessen bringt ein Caterer das Essen und der Arzt kommt in die Unterkunft. Wenn in der Zeit weitere Fälle auftreten sollten, kann die Quarantäne verlängert werden.

Ankunft von infizierter Person und Kontaktpersonen in FlüchtlingsunterkunftBild: Privat

Rund anderthalb Millionen Geflüchtete leben in Deutschland, viele von ihnen in Massenunterkünften mit mehreren Hundert Bewohnern. Es herrschen beengte Verhältnisse, zum Teil müssen Mehrbettzimmer mit Fremden geteilt werden. Flüchtlingsräte kritisieren seit langem die lagerähnlichen Zustände, die von Fremdbestimmung und fehlender Privatsphäre geprägt sind.

Die in Sammelunterkünften untergebrachten Menschen seien durch die enge Belegung und die meist gemeinschaftliche Nutzung von Bädern und Küchen besonders gefährdet, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren, schreiben Flüchtlingsorganisationen in einem gemeinsamen Appell.

Risiko wie auf einem Kreuzfahrtschiff

Auch in den beiden unter Quarantäne stehenden Berliner Unterkünften werden die Bäder gemeinsam genutzt, schreibt das LAF auf DW-Anfrage. Könnte das im schlimmsten Fall bedeuten, dass sich die Bewohner nacheinander gegenseitig anstecken und damit die Quarantäne Woche um Woche verlängert werden müsste?

Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat kritisiert, Geflüchtete seien in vielen Fällen schlecht über das Virus informiert wordenBild: DW/M. Müller

Diese Frage stellt sich auch eine Person, die im Berliner Gesundheitsamt tätig ist und anonym bleiben will: "Das ist auch nichts anderes als ein Kreuzfahrtschiff mit Infizierten. Nach dem Motto: ‘Wir stellen die gesamte Unterkunft mit Polizeischutz unter Quarantäne, bis alles verseucht ist.' Das ist nicht ethisch." Die Gesundheitsämter entscheiden in der Regel mit, ob Sammelunterkünfte unter Voll- oder Teilquarantäne gestellt werden sollen. Geflüchtete in Massen ohne Vorwarnung einzusperren, hält sie für problematisch. "Das kann bei traumatisierten Menschen viel auslösen." Ein sinnvoller Vorschlag sei dagegen, Geflüchtete in leerstehenden Hotels und Pensionen unterzubringen. Gerade seien aber alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, da würde bei den Geflüchteten keiner so genau hinschauen.

"Ich habe Angst um meine Familie"

In Kürze will die Senatsgesundheitsverwaltung eine reine Quarantäne-Unterkunft eröffnen, um dort Infizierte und Kontaktpersonen in autarken Wohneinheiten unterzubringen. Damit solle eine gegenseitige Ansteckung künftig verhindert werden. Das derzeit größte Problem sieht Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat in der schlechten Informationsvermittlung. In manchen Unterkünften werde nur mit Verboten gearbeitet, "ohne ausreichende Information und ohne Aufklärung. Das führt zu extremem Unfrieden und Verunsicherung bei den Bewohnern." In den Unterkünften würden zwar mehrsprachige Informationsplakate und -flyer über das Coronavirus hängen, das reiche aber bei weitem nicht. Viele wichtige Fragen blieben offen für Menschen, die kein Deutsch verstehen: Wie leicht und wie schnell kann man sich anstecken? Was ist im öffentlichen Raum noch erlaubt? Wann könnte die Polizei einen anhalten?

Ali Saad, Geflüchteter aus Syrien, hat Angst, seine Familie könnte sich mit dem Corona-Virus ansteckenBild: DW/M. Müller

Vor einer Unterkunft im Süden Berlins treffen wir Ali Saad aus Syrien. Er lebt hier mit seiner drei Monate alten Tochter und seiner Frau. Er macht sich Sorgen. "Man hat uns gesagt, bleibt zu Hause, habt keinen Kontakt. Das ist alles. Wir bekommen keine richtigen Informationen. Ich habe Angst um meine Familie." Er ist der einzige der Familie, der noch rausgehe um einzukaufen. Immerhin mit Handschuhen und Desinfektionsmittel, das er sich selbst besorgen musste. "Im Heim bekommen wir nichts", sagt er.

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