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Politik

Die Ausgangssperre und die Seele

Sergio Matalucci pn
2. April 2020

Der Ausbruch des Coronavirus zermürbt die Italiener - sie leben seit dem 9. März vor allem zuhause. Wie schlimm die psychologischen Folgen werden, hängt davon ab, wie lange die Krise anhält. Aber es gibt Hilfe.

Coronavirus | Italien | Lockdown | Flash mob
Bild: picture-alliance/Photoshot

Sonia Tranchina verbringt die Corona-Quarantäne mit ihren beiden Kindern und ihrem Hund in einer 65 Quadratmeter großen Wohnung in Mailand. "Am Anfang lief alles gut, bis gestern", sagt die 38-Jährige. "Mein Sohn ist 13 Jahre alt. Eigentlich ist er sehr scheu. Aber gestern überraschte er mich damit, dass er mit seinen Freunden rausgehen wolle. Plötzlich fühlte ich mich überfordert." Und weiter sagt sie: "Vorher war er schüchtern, jetzt langweilt er sich. Er schläft den ganzen Tag. Er steht nur auf, um am täglichen Online-Unterricht teilzunehmen. Ich habe Angst um ihn."

Sonia ist blind. Sie gehört zur italienischen Nationalmannschaft im Tischball - eine Art Tischtennis für blinde und sehbehinderte Menschen. Wegen der Ausgangssperre kann Sonia nicht zum Training gehen. "Wir sind abgekapselt. Es ist merkwürdig, zu Hause zu bleiben. Und wenn ich in den Supermarkt gehe, bin ich völlig desorientiert, weil ich niemanden um mich herum höre. Der Corona-Virus hat unser Leben auf Eis gelegt."

Leben auf Eis: Sonia Tranchina, hier mit ihrem älteren SohnBild: privat

Letzte Woche hat die italienische Regierung ein landesweites Programm gestartet, um Menschen wie Tranchina psychologisch zu unterstützen. In Zusammenarbeit mit regionalen Verbänden und Einrichtungen bieten Psychologen kostenlose Nothilfe an. Patienten können telefonisch oder online Kontakt aufnehmen.

Selbst Menschen mit stabilen Familien und sicheren Arbeitsplätzen erwarten erhebliche psychologische und gesellschaftliche Veränderungen. "Wir sind misstrauischer geworden. Wir müssen wohl über Monate oder sogar Jahre körperlich Abstand voneinander halten", sagt Giovanni Cerana, 44 Jahre alt, Lehrer und Vater von zwei Kindern. "Das soziale System könnte zusammenbrechen, das familiäre Netzwerk genauso. Meine Eltern sind schon relativ alt. Ich werde mich monatelang fragen, ob meine Kinder sie wirklich besuchen sollen. Die Großeltern sind eine Säule der italienischen Gesellschaft, jetzt könnten sie ins Abseits geraten, damit sie nicht in Gefahr geraten. Ist das nicht traurig?"

"Wir müssen vielleicht jahrelang Abstand voneinander halten": Lehrer Giovanni CeranaBild: privat

"Die soziale Distanz zwischen den Menschen wächst in jeder Hinsicht", sagt Cerana weiter und verweist auf Kinder, die ins Heim kamen, nachdem ihre Eltern positiv getestet wurden.

Der Notfall im Notfall

Die Nachfrage nach psychologischer Hilfe steige, insbesondere bei Menschen in den Dreißigern, sagt Camilla Quarticelli, eine in Mailand lebende Psychotherapeutin. "Wir leiden alle unter einem intensiven psychologischen Trauma, einzeln und als Gemeinschaft. Dieses Trauma wird nicht nur durch die direkten Folgen der Pandemie wie Trauer und Krankheit verursacht, sondern auch durch indirekte, nicht weniger wichtige Folgen wie Arbeitsplatzverlust, Burnout, post-traumatischer Stress und solcher, der auf die Situation in der Quarantäne zurückgeht."

In den letzten Wochen wurden in Italien mindestens zwei Frauen von ihren Kindern erstochen. Eine weitere Frau wurde gerettet, nachdem ihr Mann mit einem Hammer auf sie losgegangen war. Gewalt gegen Frauen wird als "Notfall im Notfall" definiert.

"Die Zahl der Psychologen in Italien ist recht hoch. Mit einer guten Koordination sollte es möglich sein, auf alle Anfragen zu reagieren - nicht nur jetzt, da es akut und dringend ist, sondern auch danach", sagt Quarticelli.

Menschen in Gefahr

Besonders gefährdet sind Familien mit wenig Einkommen und Personen, die allein auf kleinem Raum leben. Wenn Menschen nicht in der Lage sind, sich einer Notlage schnell anzupassen, kann dies die Auswirkungen auf die Psyche noch verschärfen.

"Eine Kontaktsperre kann ein ernsthaftes Problem für Suchtkranke sein", sagt Serena Camposeo, Psychotherapeutin in der Region Südapulien. "Eingrenzung, Unbeweglichkeit und der Mangel an legalen oder illegalen Rauschmitteln können sie in einen Strudel der Sucht treiben. Sie könnten von Drogen zu Alkohol wechseln. Einige können auch psychische Probleme entwickeln, vor allem ohne psychologische Unterstützung." Camposea arbeitet freiwillig für die staatliche Hotline. Sie sagt, schon am ersten Tag wurde sie von fünf Leuten aus Caravigno, ihrer eigenen Stadt, angerufen.

Prinzip Hoffnung: "Andrà tutto bene - Alles wird gut"Bild: picture-alliance/abaca/IPA/P. Tenagli

Medizinische Fachkräfte leiden unter zusätzlichem Stress - auch weil sie befürchten müssen, dass der Virus mutieren könnte. Hinzu kommen die Sorgen, die alle haben - dass sie andere Menschen mit dem Virus anstecken und selbst sterben könnten. Bisher sind in Italien mindestens 63 Ärzte durch das Corona-Virus ums Leben gekommen.

"Ich habe keine Angst um mich selbst, sondern um meine Lieben", sagt ein Arzt, der in einem Krankenhaus in der Lombardei arbeitet. Er möchte sich nur anonym äußern. "Ich hoffe einfach, dass ich durchhalte. Psychologische Unterstützung ist jetzt wichtig, aber dafür ist keine Zeit. Es gibt keine Kapazitäten."

Mitgefühl kann sich keiner leisten

Isabel Fernandez, eine auf posttraumatische Belastungsstörungen spezialisierte Psychologin, sagt, dass Ärzte in dieser Situation kaum mit ihren Kollegen mitfühlen können. "Jeder infizierte Arzt, jede infizierte Pflegekraft erinnert die anderen nur daran, dass sie die nächsten sein könnten." Sie sagt, der Mangel an medizinischen Ressourcen mache das Trauma nur noch schlimmer.

Arbeiten wie im Krieg: Auf der Intensivstation des Krankenhauses im norditalienischen BresciaBild: picture-alliance/dpa/AP/LaPresse/C. Furlan

Eine 34-jährige Krankenschwester beging kürzlich Selbstmord. Sie erhängte sich in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Medizinische Fachkräfte wie sie erleben Situationen, wie man sie sonst nur aus Kriegen kennt.

"Als ich krank wurde, kam ich mit zehn bis 20 anderen Leuten in ein Zelt. Viele konnten nicht atmen, viele weinten. Plötzlich war ich in einem Kriegsfilm. Dieser Tag war der schwerste für mich." sagt Claudio Chiari, ein 49-jähriger Journalist aus Brescia. Er wurde positiv getestet und ins Krankenhaus eingeliefert. Jetzt ist er in seiner Wohnung in Quarantäne. "Nach dem Leid auf der Station ist diese Form der Isolation vergleichsweise angenehm."

Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/ In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

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