Eine Tourismushochburg wird zur Krisenregion
1. April 2020Alberto Piñar ist in Sevilla geboren und aufgewachsen. Der 28-Jährige ist seit fünf Jahren selbständig und lebt als Single im Zentrum der südspanischen Stadt. Gerade noch vor dem Lockdown schaffte er es, zum Haus seiner Eltern am Stadtrand zu kommen. "Hier gibt es mehr Platz - und wenigstens bin ich nicht allein", sagt Piñar.
Der Ausbruch des Coronavirus hat Spanien stark getroffen. Mit über 102.000 Infizierten und mehr als 9000 Toten (Stand Mittwoch) ist es das am zweitstärksten betroffene Land Europas. Um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren, hat die Regierung verpflichtende Ausgangsbeschränkungen verfügt, die seit dem 16. März gelten und kürzlich bis zum 12. April verlängert wurden. Seitdem müssen die Menschen zu Hause bleiben und dürfen ihre Wohnungen nur zum Einkaufen verlassen, oder wenn sie ihre Hunde ausführen oder sich um bedürftige Verwandte kümmern müssen. Auch zur Arbeit darf man nur, wenn es absolut notwendig ist.
Für die Cartoonistin Iratxe Fernández, die eine einjährige Tochter hat, bedeuten die Ausgangsbeschränkungen eine Menge Stress. Sowohl sie als auch ihr Partner arbeiten Vollzeit von zu Hause aus und kümmern sich abwechselnd um ihr Kind. "Meine Tochter ist noch sehr [von uns] abhängig. Zu Hause ist es schwer sich zu konzentrieren. Arbeiten und sich um ein Kind kümmern ist nicht miteinander vereinbar."
Hunderte Kilometer weiter, in Madrid, arbeitet der italienische Biologe Massimiliano Saladino, auch er von zu Hause aus. Dennoch ist seine Weiterbeschäftigung bei einer Fruchtbarkeitsklinik ungewiss. "Im Prinzip ist heute mein letzter Arbeitstag. Niemand weiß, was kommt." Saladino ist besorgt über eine Regelung für befristet Beschäftigte. Diese erlaubt es, Arbeitskräfte während des Lockdowns zu entlassen.
Spaniens wichtigste Wirtschaftsbranche bedroht
Das spanische Ministerium für Arbeit und Soziales berichtet, von Anträgen auf Arbeitslosenunterstützung geradezu überschüttet zu werden. Die spanische Wirtschaft stützt sich stark auf den Dienstleistungs- und Tourismussektor. Beide Branchen befinden sich augenblicklich in einer Art Schockstarre.
Ungefähr fünf Millionen Menschen, oder zwölf Prozent der Bevölkerung, arbeiten in der Tourismusbranche. 2019 kamen 83,7 Millionen Touristen nach Spanien; der Sektor macht ein Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. Es wird erwartet, dass die Verluste aus dem verlorenen Ostergeschäft "bei über 30 Milliarden Euro liegen werden", sagt der Tourismus-Experte Pablo Díaz von der Offenen Universität Kataloniens. "Wenn der Lockdown bis in den Sommer anhält, wird erwartet, dass die Verluste doppelt so hoch sein werden."
Aber selbst wenn die Ansteckungsgefahr in Spanien unter Kontrolle wäre, wäre es unwahrscheinlich, dass schon bald wieder Touristen ins Land kommen. Besucher aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den nordischen Ländern stellen die größte Besuchergruppe dar, doch diese Länder arbeiten noch an Maßnahmen, die Pandemie in den Griff zu bekommen. "Wahrscheinlich werden Italiener Spanien besuchen, sobald die Ausgangsbeschränkungen aufgehoben werden, da sie ähnlich hohe Fallzahlen haben. Da aber die nordischen Länder geringere Fallzahlen haben, werden sie wahrscheinlich eine Zeit lang die Region meiden", erklärt Díaz.
Adäquate Maßnahmen der Regierung?
Zuletzt gab es in Spanien einen massiven Anstieg bei der Anzahl der Corona-Infizierten: Von 14.500 Infizierten am 18. März stiegen die Fallzahlen auf etwas über 80.000 am 30. März. Warum sich die Infektion so schnell ausbreiten konnte, könnte mit den verzögerten Maßnahmen der Regierung zusammenhängen - aber auch das erklärt die Situation nicht vollständig.
"Dass Spanien das am zweitstärksten betroffene Land ist, ist Zufall. Es hätte auch jedes andere Land sein können. Epidemiologie ist keine exakte Wissenschaft, und es ist schwierig vorauszusehen, warum eine Krankheit manche Länder stärker trifft als andere", erläutert Evangelina Martich, Dozentin an der Universität Carlos III.
Wenn die Infektionszahlen in einem Land steil nach oben gehen, ist die größte Herausforderung, das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. "Kein System, nicht einmal das beste der Welt, ist auf einen solchen Zustrom an Patienten vorbereitet", sagt Martich. "Ich denke, das spanische System geht sehr gut mit der Herausforderung um. Die Regierung hat Schritte unternommen, um das System vor Überlastung zu schützen - wie zum Beispiel reguläre medizinische Untersuchungen und nicht-lebenswichtige Operationen zu verschieben."
Während einer Pandemie, sagt Martich, hat das staatliche Gesundheitssystem zwei Reaktionsphasen: zunächst Prävention, dann, Behandlung. "Spanien hat strenge Maßnahmen ergriffen, um die Ansteckungen zu begrenzen. Vielleicht hätte die Regierung schneller reagieren können, aber sie haben die richtigen Maßnahmen ergriffen. Da es noch keine Heilung gibt, ist es am besten, einen Lockdown zu verfügen", sagt Martich.
Der Lockdown geht in die dritte Woche. Die Spanier beginnen, die Auswirkungen der anhaltenden Einschränkungen zu spüren. Trotzdem wird die Moral durch den Gemeinschaftsgeist hochgehalten. Lustige Memes werden über das Internet verbreitet, Menschen kaufen für ihre stärker gefährdeten Nachbarn ein, und die tägliche Wertschätzung für Menschen im Gesundheitssystem lassen den Coronavirus weniger beängstigend erscheinen.