Krankenhäuser in Neapel vor dem Kollaps
21. November 2020"Mein Vater starb, weil die Verwaltung des Gesundheitssystems so miserabel ist. Das Krankenhaus liegt nur einen Kilometer von seinem Haus entfernt - aber die Notaufnahme ist geschlossen. Er hatte dafür gekämpft, dass sie wieder öffnet. Wenn sie noch offen wäre, hätte er überlebt", sagt Ipazia Ruotolo, die Tochter von Francesco, einem Neapolitaner, der sich in seiner Nachbarschaft politisch engagierte und vor einigen Tagen an COVID-19 starb.
Als er Mitte Oktober erkrankte, wurde er im öffentlichen Gesundheitssystem zunächst nicht auf das Coronavirus getestet, da die Mitarbeiter dort seinen Zustand trotz seiner 74 Jahre nicht als besorgniserregend ansahen.
Francesco ließ sich schließlich in einem Privatkrankenhaus testen - Ende Oktober stand fest, dass er positiv war. Er und seine Familie riefen nun täglich in den Krankenhäusern an, doch die nahmen den Kranken trotz seines kritischen Zustands nicht auf, während seine Angehörigen zusahen, wie es ihm immer schlechter ging. Anfang November kam er endlich in eine Klinik und wurde dort isoliert. Am 15. November starb Francesco im Antonio-Cardarelli-Krankenhaus, einem der größten in Neapel.
Diese Klinik ist zu einem Symbol für die dramatische Situation in den Krankenhäusern der Region geworden, nachdem ein Video in sozialen Netzwerken auftauchte, das einen COVID-19-Patienten zeigt, der allein auf der Toilette des Hospitals starb.
Der verlorene Kampf für gute Gesundheitsversorgung
In einer Kapelle in der Nachbarschaft wird des verstorbenen Francesco Ruotolo gedacht. Auf dem Weg dorthin geht seine Tochter Ipazia an Bannern vorbei, die sein Engagement für die Gemeinschaft würdigen. "Du wirst für immer in unserem Kampf weiterleben", steht auf einem. Francesco hatte geholfen, Straßen in seiner Nachbarschaft zu sanieren, und er hatte sich für den Gesundheitssektor stark gemacht: für ein neues Krankenhaus und für eine bessere Versorgung in dem bestehenden. Er protestierte vehement gegen die Schließung weiterer Kliniken. "Dieser Kampf wurde zum Symbol seines Todes", sagt seine Tochter Ipazia.
Der Tod Francescos ist nur ein Beispiel für die prekären Zustände des süditalienischen Gesundheitssystems.
In Italien bringt die zweite Corona-Welle jeden Tag rund 30.000 Neuinfektionen. Die Region Kampanien, die eine der ärmsten Italiens ist und zu der Neapel gehört, wurde in der ersten Welle von der Pandemie weitgehend verschont. Doch jetzt gibt es mehr als 600 COVID-19-Fälle pro 100.000 Einwohnern, so das Oberste Gesundheitsinstitut. Diese Zahl liegt weit über dem nationalen Durchschnitt - die süditalienische Region ist nun als rote Zone eingestuft, in der eine Ausgangssperre gilt.
Ärzte und Pflegepersonal - hilflos und frustriert
Die Hospitäler können nicht mehr alle Kranken aufnehmen. "Im Moment sind alle unsere Betten belegt, sowohl auf der Intensivstation als auch auf den anderen Stationen. Und wir behandeln nur COVID-Patienten. In unserm Warteraum sitzen noch Patienten, die auf ihre Aufnahme warten", erzählt Elio Manzillo, Leiter des Ospedale Cotugno, eines Krankenhauses, das auf Infektionskrankheiten spezialisiert ist.
Die Region Kampanien badet damit die Budgetkürzungen der Regierung aus, sagen viele Ärzte. Mehrere Krankenhäuser wurden privatisiert und den öffentlichen Kliniken wurden immer mehr Ärzte und Krankenpfleger gestrichen. Schon vor der Pandemie waren sie überfordert mit der Arbeit - nun hat sich die Situation weiter verschlechtert.
Das ist nicht nur schlecht für die Kranken, sondern auch für die Beschäftigten im Gesundheitssektor. Sie fühlen sich hilflos, denn "die Sparmaßnahmen in unserer Region verhindern, dass wir den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden", klagt Simona, eine Internistin in Neapel, die nur ihren Vornamen nennen möchte. Um diesen Mangel auszugleichen, setzen die Krankenhäuser auch Auszubildende und fachfremde Mediziner ein - die sind aber nicht für solche Krisensituationen ausgebildet. Die COVID-Patienten versorgen beispielsweise Augenärzte, Gynäkologen und Medizinstudenten aus der Geriatrie, sagt der Anästhesist Lello.
Zu den medizinischen Herausforderungen für diese Ärzte und Pflegekräfte kommt die Angst, sich zu infizieren und ihre Familienangehörigen zu Hause anzustecken.
Arme Region - arme Krankenhäuser
Die Schwierigkeiten, mit denen das süditalienische Gesundheitssystem konfrontiert ist, sind nicht neu. Die Pandemie hat die Ungleichheit zwischen Privatkliniken und dem öffentlichen Gesundheitssektor nur noch vergrößert.
Der linke Politiker und Arzt Mario Coppeto, Mitglied des Stadtrats von Neapel, räumt ein, dass Politiker einen Teil der Verantwortung tragen und die Krise besser hätten bewältigen können. Seiner Meinung nach liegt das Problem in der Struktur des Gesundheitssystems: "Die Zuständigkeiten liegen dezentral bei den Regionen, und dadurch entstehen viele Ungleichgewichte - die Ressourcen, die Finanzierung und die Organisation sind in jeder Region anders."
Dabei steht dem öffentlichen Gesundheitssystem in Neapel das Schlimmste noch bevor, glaubt Elio Manzillo vom Ospedale Cotugno: "Wir müssen damit rechnen, dass die Infektionskurve noch ansteigen wird. Die nächste Zeit wird hart."
Ipazia Ruotolo bereitet derweil die Beerdigung ihres Vaters Francesco vor. Bei aller Trauer: Das Pflegepersonal sei nicht Schuld am Tod ihres Vaters, sagt sie: "Es ist ein Fehler des Systems, nicht der Menschen, die darin arbeiten."